# taz.de -- Wie Übergewichtige unter Vorurteilen leiden: Die schwer Kranken | |
> Menschen, die unter Fettleibigkeit leiden, gelten in der Gesellschaft als | |
> faul und gefräßig. Wie sie nicht nur gegen Vorurteile, sondern | |
> verzweifelt gegen ihr Gewicht ankämpfen. | |
Bild: Kampf gegen das Vorurteil, sich den ganzen Tag auf der Couch Hamburger un… | |
Berlin Alexanderplatz zur Rushhour. Die Menschen stehen dicht gedrängt bei | |
stickigen 28 Grad in der überfüllten S-Bahn. Erika K. steigt ein und zeigt | |
ihren Schwergeschädigtenausweis vor - ihre Arthrose schmerzt stark, sie | |
bittet freundlich um einen Sitzplatz. Aber Erika K. erntet abwertende | |
Blicke, ein junger Mann flüstert hörbar: "Erst sich fett fressen und dann | |
auch noch Ansprüche stellen." Die anderen Fahrgäste nicken zustimmend. In | |
diesem Moment beschließt die 38-Jährige, von ihrem gesetzlichen Anrecht auf | |
einen Platz in der Bahn keinen Gebrauch mehr zu machen. Künftig wird sie | |
stehen, denn Erika K. ist - nach eigenen Aussagen - "ein Stück Vieh | |
innerhalb der Gesellschaft". Ihr Makel: Sie wiegt 148 Kilo. | |
Demütigende Situationen gibt es im Leben der Berlinerin genug. Wenn Sie | |
sich im Restaurant erhebt und der Stuhl bleibt an ihrem Hintern klemmen, | |
dann fangen Gäste an zu grinsen. Als sie als Teenager einmal den Mut hat, | |
einen Jungen in der Disko anzusprechen, sitzt der "fette Tonne"-Spruch so | |
tief, dass sie es nie wieder wagt. Und die Verkäufer bei C&A tuscheln, weil | |
sie sogar in der "Dicken"-Abteilung in kein T-Shirt passt. Erika K. ist | |
hochgradig adipös, sie trägt Konfektionsnummer 60 bei einer Körpergröße von | |
1,65 Metern. Ihr Body Mass Index (BMI) liegt bei 55. Als unbedenklich gilt | |
ein Wert bis 25. | |
Das traumatischste Erlebnis aber war für Erika K., als sie sich im | |
vergangenen Jahr am Fuß operieren ließ. Sie lag schon auf dem OP-Tisch, als | |
die Schwestern feststellten, dass die Blutdruck-Manschette nicht um ihren | |
Arm passte. "Dann ist sie eben selbst schuld, wenn etwas schiefgeht", war | |
das Letzte, was Erika K. hörte, bevor sie in der Narkose versank. | |
"Fett, faul und gefräßig", mit diesem Vorurteil wird Erika K. alltäglich | |
konfrontiert. Laut WHO gilt als adipös, wer einen BMI von über 30 hat. Nach | |
einer Studie des Robert-Koch-Instituts sind davon 20 Prozent der | |
Erwachsenen in Deutschland betroffen - Tendenz steigend. Das Image dicker | |
Leute ist dabei äußerst negativ: So würden schon Kinder im Vorschulalter | |
lieber mit einem behinderten Kind befreundet sein als mit einem | |
übergewichtigen. Galten Dicke in den 1950er-Jahren noch als gemütlich und | |
humorvoll, gelten sie heute als willensschwach und dumm. | |
Gegeißelt werden Adipositas-Kranke zusätzlich durch das gängige "Je dünner, | |
desto besser"-Schönheitsideal - vor allem die Frauen. Für ihren Körper, | |
"diese unförmige Masse voller Krampfadern und Besenreiser", kann Erika K. | |
kaum mehr als Hass empfinden. Ihre Erfahrungen mit Männern sind fast alle | |
schlecht: "Jenseits der 100-Kilo-Marke wird man höchstens als Sexobjekt | |
wahrgenommen." Nur einmal lernte Erika K. einen Mann kennen, für den sie | |
als ernsthafte Lebenspartnerin infrage kam, ansonsten wurde sie nur von | |
Männern angesprochen, die sie für zweifelhafte Fotoprojekte engagieren oder | |
schlichtweg ausnutzen wollten. Heute lebt Erika K. mit einer Frau zusammen. | |
Es hat Jahre gedauert, bis sie ihre Hemmungen überwinden und sich ihrer | |
Freundin in Unterwäsche zeigen konnte. "Besonders schmerzhaft ist, dass die | |
meisten Menschen meinen, ich würde den ganzen Tag auf der Couch sitzen und | |
mir Hamburger und literweise Cola einverleiben. Dass Adipositas eine | |
schwere Krankheit ist, versteht kaum jemand." | |
Eine Sichtweise, die Privatdozent Dr. Jürgen Ordemann, Leiter des | |
Adipositas-Zentrums der Berliner Charité, bestätigen kann: "Die Betroffenen | |
haben vermutlich eine genetische Disposition für Übergewicht, das | |
Zusammenspiel von Fettverbrennung, Stoffwechsel, Hunger- und | |
Sättigungsgefühl ist bei ihnen gestört. Hinzu kommen psychische Probleme | |
als Ursache für ein fehlerhaftes Essverhalten. Der Vorwurf, sie seien an | |
ihrer Figur alle selbst schuld, ist daher nicht haltbar." | |
Auch bei Erika K. liegt der Hang zum Übergewicht in der Familie, | |
Kinderfotos zeigen es deutlich: in den 1970er-Jahren ein stämmiges Mädchen | |
mit Pausbacken an der Hand der fülligen Mutter. 1983 zu Beginn der Pubertät | |
im Badeanzug: kräftige Oberschenkel, die erste Cellulite, ein wallender | |
Busen. Erika K. leidet seit ihrer Kindheit unter unkontrollierbaren | |
Fressattacken, und obwohl sie schon früh gegensteuert, ist der Weg von | |
"mollig" zu "fett" unaufhaltsam. | |
Dass mit jedem Kilo zu viel auf den Hüften das Leben im wahrsten Sinne des | |
Wortes schwerer wird, ist auch die Erfahrung von Barbett T. War sie vor | |
fünf Jahren mit 75 Kilo noch vergleichsweise schlank, wiegt sie heute 115 | |
Kilo. Und das, obwohl sie täglich 13 Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit | |
fährt. Eigentlich ist die 42-jährige Grafikdesignerin eine starke Frau, sie | |
investiert viel Geld in attraktive Kleidung aus Spezialgeschäften, statt | |
"Frustriertenmode" zu tragen. Es gibt durchaus Tage, an denen sie | |
selbstbewusst Lippenstift auflegt und mit der Einstellung "Ich bin halt, | |
wie ich bin" in den Tag startet. "Doch kaum bin ich unter Leuten, sehe ich | |
mich mit den Augen der anderen: eine verachtenswerte Frau, die nicht ins | |
Schema passt." Barbett T. hat ihre Gefühle in der Illustration "Im | |
Spiegelkabinett" festgehalten: Zu sehen ist eine sich vor Scham beugende | |
Frau, die ihr verhasstes Ich noch nicht einmal ansehen kann - das | |
Spiegelbild wiederum reicht ihr hämisch einen Selbstmörderstrick. | |
Barbett T. ist überzeugt, dass ihr Gewicht an vielen Missständen in ihrem | |
Leben schuld ist, sie quält sich mit Selbstvorwürfen: Warum habe ich keinen | |
Partner? Warum lief das letzte Bewerbungsgespräch so schlecht? Bestimmt, | |
weil der Chef den Anblick meiner dicken Schenkel nicht ertragen konnte. Es | |
gab Phasen, in denen konnte sie nicht das Haus verlassen. | |
Je breiter ihr Körper wurde, je mehr Angriffsfläche er bot, desto kleiner | |
machte sich Barbett T. in ihrem Inneren. "Ich habe gelernt, mich zu | |
reduzieren. Mit meinem Hintern ecke ich schon genug an, als Ausgleich | |
versuche ich möglichst wenig Ansprüche zu stellen." Manchmal drückt sie | |
sich an die Hauswand, um niemandem den Platz auf dem Bürgersteig | |
wegzunehmen, im selben Moment macht Barbett T. ihr eigenes Verhalten | |
wütend: dass sie sich wegen ihres BMI ins gesellschaftliche Abseits drängen | |
lässt. Nimmt sie sich morgens noch fest vor, sich für ihr Recht auf | |
Akzeptanz einzusetzen, liegt abends ihr Selbstbewusstsein meist in | |
Scherben. Dann schließt sich der Teufelskreis, neue Fressattacken folgen. | |
Zum Beispiel letztens, als sie zufällig einen Passanten auf der Straße mit | |
ihren wulstigen Oberarmen berührte - und er sich sichtbar angeekelt | |
wegdrehte. | |
Barbett T. und Erika K. haben jeweils mindestens 25 Jahre Diäterfahrungen | |
hinter sich: Brigitte-Diät, Iss die Hälfte, Iss gar nichts mehr. Salat und | |
Gemüse stehen ganz oben auf Erika K.s Speiseplan, sie nahm an unzähligen | |
klinischen Ernährungsprogrammen teil, und in punkto Bewegung hat sie mehr | |
Disziplin als manch Normalgewichtiger. Sie macht mehrmals die Woche Sport, | |
so gut es mit ihrem massigen Körper eben geht. Sogar ins Schwimmbad traut | |
sie sich - trotz größter Scham. Denn der Moment im Wasser, in dem sich ihr | |
Körper endlich einmal leicht anfühlt, ist unbezahlbar. | |
Während einer Kur Mitte der 1990er-Jahre gelingt es Erika K. tatsächlich, | |
25 Kilo abzunehmen - der rasch einsetzende Jo-Jo-Effekt machte das Ergebnis | |
schnell wieder zunichte. "Wenn ich frustriert bin, kann ich den Drang zu | |
essen nicht mehr beherrschen. Es ist wie eine Sucht. Ich stopfe alles in | |
mich rein, was sich findet: Butterstücke, Schokolade, Löffel voller Öl. | |
Andere Leute schneiden sich die Arme kaputt, nehmen Drogen. Ich fresse." | |
Schon jetzt leidet Erika K. an Arthrose, eine Herz-Kreislauf-Erkrankung und | |
Diabetes sind bei ihr, wie bei allen Adipositas Kranken, | |
höchstwahrscheinlich. | |
"Gegessen habe ich, um mich zu schützen", weiß Erika K. heute nach | |
unzähligen Psychotherapiesitzungen, die ihr zumindest ein Minimum an | |
Selbstakzeptanz zurückgegeben haben. Erika K. wurde jahrelang innerhalb der | |
eigenen Familie sexuell missbraucht, ihr Vater war schwerer Alkoholiker. Um | |
die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, legte sie sich einen | |
Schutzpanzer an, noch heute nimmt sie täglich Antidepressiva. Genau wie | |
Magersüchtige aus innerem Schmerz sich fast zu Tode hungern, fraß sich | |
Erika K. fast zu Tode. Der einzige Unterschied: Magersucht wird als | |
Krankheit respektiert, Adipositas verachtet. | |
Für Dr. Ordemann nährt sich das Klischeebild des faulen und gefräßigen | |
Dicken aus der Tatsache, dass extremes Übergewicht vor allem in den unteren | |
Schichten auftritt, eine These, die durch die Studie des | |
Robert-Koch-Instituts betätigt ist. "Je geringer der Bildungsgrad, desto | |
dürftiger das Wissen über gesunde Ernährung. Kommen Arbeitslosigkeit und | |
fehlende Lebensperspektiven hinzu, bleiben die Betroffenen eher mit einer | |
Tüte Chips vor dem Fernseher sitzen, als sich um einen fitten Körper zu | |
bemühen", so Ordemann. | |
Er plädiert für ein selbstverantwortliches Handeln: "Übergewichtige müssen | |
sich frühzeitig professionelle Hilfe holen und ihren Ernährungsplan, wenn | |
nicht gar ihre komplette Lebensweise umstellen." | |
In der Charité berät er vor allem Patienten wie Erika K. und Barbett T.: | |
Menschen, die für lethargische Vielfresser gehalten und dafür abgestraft | |
werden, es aber nicht sind. "Bei Adipositas geht es nicht darum, ein paar | |
Kilos loszuwerden, damit die Jeans nicht zwickt. Es geht darum, sein | |
Körpergewicht um 40 bis 50 Prozent zu reduzieren. Das ist eine | |
Lebensaufgabe", so Ordemann. Für manche bleibt als einzige Lösung nur noch | |
eine operative Magenverkleinerung. | |
Erika K. hat nun beschlossen, sich im Adipositas-Zentrum der Charité einen | |
Magen-Bypass legen zu lassen. Die riskante Operation, die darauf folgende | |
Zeit, in der sie flüssige Nahrung nur in Kleinstmengen zu sich nehmen kann, | |
die quälenden Magenkrämpfe - all das will sie in Kauf nehmen, um endlich | |
ihren Körper auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Sie wünscht sich vor | |
allem gesellschaftliche Akzeptanz für ihre Krankheit. | |
9 Jul 2008 | |
## AUTOREN | |
Saskia Vogel | |
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