# taz.de -- Soziologin über Dicksein: „Körperkontrolle ist am wichtigsten“ | |
> Schlank zu sein heißt Selbstkontrolle: Essen wird stark moralisiert, | |
> findet die Soziologin Eva Bärlösius am Anti-Diät-Tag. Schon Kinder würden | |
> Süßigkeiten als Sünde empfinden. | |
Bild: Körperfülle mit Selbstbewusstsein. | |
taz: Frau Barlösius, manche Menschen sagen heute halb scherzhaft, halb | |
ernsthaft, sie hätten „gesündigt“, wenn sie ein Tortenstück gegessen hab… | |
Wird Fett und Süßes heute moralisch so verurteilt wie früher Sex? | |
Eva Barlösius: Das Essen ist heute das Lebensgebiet, auf dem die strengsten | |
Standards, die stärksten Normierungen gesetzt werden. Ich nenne das die | |
„Moralisierung“ des Essens. Wir haben Interviews gemacht mit sechs-, | |
siebenjährigen Kindern, die schon präsent haben, dass, wenn sie Süßigkeiten | |
essen, dies eine Form der Sünde sei. Die erklären uns, man sollte | |
eigentlich Obst, Gemüse und Schwarzbrot essen. Die Kinder lernen, das Essen | |
nicht mehr als etwas Selbstverständliches und Natürliches zu begreifen, | |
sondern als etwas, über das ich permanent zu reflektieren habe. | |
Das verdirbt doch den Spaß am Essen, auch an gemeinsamen Mahlzeiten. | |
Essen ist eine Möglichkeit, Gemeinschaft, Feste zu erleben. In türkischen | |
Familien zum Beispiel ist das Essen und das Nötigen zum Essen ein Zeichen | |
gegenseitiger kultureller Wertschätzung. Wer viel anbietet, wer die Tafel | |
voll stellt, ist eine gute Mutter, eine gute Gastgeberin. Wer viel isst, | |
zeigt Wertschätzung – und gerät damit aber in Konflikt mit | |
gesamtgesellschaftlichen Normen, die eine Kontrolle des Essens | |
vorschreiben. Gerade Mütter übergewichtiger und adipöser Kinder stehen in | |
einem Rollenkonflikt, denn sie wollen ihre Kinder gut versorgen, sollen | |
aber gleichzeitig auch über deren Gewicht wachen. | |
Für viele Leute gehört es zum Lebensstil, Diäten zu machen. Ist das der | |
Wunsch, die Kontrolle über den eigenen Körper zu haben? | |
Wir wissen aus Studien, dass junge Frauen sagen, wenn sie ihren Körper | |
kontrollieren, dann hätten sie das Gefühl, auch ihr Leben im Griff zu | |
haben. Das wird ihnen aber so beigebracht, das ist eine gesellschaftliche | |
Interpretation. Nicht in allen Gesellschaften ist Schlanksein ein Zeichen | |
dafür, dass ich mein Leben unter Kontrolle habe. Geld zu besitzen, sich zu | |
bilden, dass könnte genauso als Zeichen von Selbstwirksamkeit gelten. Aber | |
bei uns zählt inzwischen die Kontrolle über den Körper beinahe mehr als | |
alles andere. | |
Stehen Jungs dabei unter dem gleichen Stress wie Mädchen? | |
Das gleicht sich zwischen den Geschlechtern an. Allerdings erklären | |
dickliche männliche Jugendliche manchmal, dass sich ihr Körper in einem | |
Übergangsstadium befinde und sich das Körperfett später noch in Muskeln | |
verwandeln würde. Diese Möglichkeit der Selbstinterpretation haben junge | |
Mädchen nicht. Aber im Prinzip leiden dickliche Jungs genauso. | |
Waren Dicke früher genauso stigmatisiert wie heute? | |
Diese Normierung des Körpers, der Anspruch, bis ins hohe Alter schlank, fit | |
und sportlich zu sein, das hat es früher so nicht gegeben. Was in den 50er | |
Jahren noch als schlank durchging, gilt heutzutage schon mehr oder weniger | |
als mollig oder füllig. | |
Alte Menschen haben ja im Allgemeinen ein höheres Gewicht. Verändern sich | |
diese Normen nicht, wenn wir gleichzeitig immer älter werden? | |
Ich glaube eher nicht, denn in der Gesellschaft gilt ein schlanker Körper | |
als Zeichen von Jugendlichkeit. Außerdem wird Übergewicht und Adipositas | |
mit sozial benachteiligten Schichten in Verbindung gebracht. Solange sich | |
die Klassen und Schichten ausdifferenzieren, werden die Stigmatisierungen | |
der Dicken bleiben. | |
6 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
## TAGS | |
Übergewicht | |
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