# taz.de -- Dicker Protest am Anti-Diät-Tag : Fett gedisst | |
> Die letzte Minderheit, die ungestraft diskriminiert werden darf: Dicke. | |
> Zum Anti-Diät-Tag am Sonntag wehren sie sich und kämpfen um | |
> Barrierefreiheit. | |
Bild: Miryana Colton, Mitglied des Teams „Padded Lilies“ („Gepolsterte Li… | |
BERLIN taz | Es war eine einmalige Gelegenheit. Eine herausgehobene | |
Stellung als Wissenschaftlerin an einer großen Universität. „So was kriegt | |
man nur einmal im Leben“, sagt Franka Müller*. Doch vor der Einstellung | |
stand die Untersuchung beim Amtsarzt. Der stellte die junge Frau auf die | |
Waage und schrieb in sein Gutachten: Zwar sei sie „derzeit gesund“, doch | |
wegen einer „chronischen Krankheit“ könnte sie irgendwann dienstunfähig | |
werden. Zur Verbeamtung sei die Forscherin deshalb „ungeeignet“. Und ohne | |
Verbeamtung sollte sie den Job nicht kriegen. | |
„Ich wusste überhaupt nicht, welche chronische Krankheit das sein soll“, | |
sagt Müller. Der Arzt erklärte es ihr: Adipositas, Grad II, gleichbedeutend | |
mit einem Body-Mass-Index von 35 bis 40. Sich für den Job | |
herunterzuhungern, kam nicht infrage. „Schon als Kind habe ich immer Diäten | |
gemacht, das war jedes Mal eine enorme psychische Belastung. Außerdem | |
glaube ich, dass Diäten gesundheitsschädlich sind.“ Für Müller war klar: | |
„Das tue ich mir nicht an.“ | |
Stattdessen suchte sie Rat bei Stephanie von Liebenstein. „Zu uns kommen | |
jedes Jahr Dutzende solcher Fälle“, sagt die Vorsitzende der Gesellschaft | |
gegen Gewichtsdiskriminierung (GgG). Darunter sind nicht nur Polizisten | |
oder Feuerwehrleute, deren Beruf Beweglichkeit erfordert, „sondern zum | |
großen Teil Leute mit Schreibtischjobs“. Der Staat fürchtet die | |
Pensionslast, wenn die Dicken krank und deshalb dienstunfähig werden – und | |
verweigert ab einem BMI von 30 meist den Beamtenstatus. | |
„Absoluter Unsinn“, sagt Liebenstein. „Keine Studie der Welt weist nach, | |
dass selbst Menschen mit einem sehr hohen BMI nennenswert häufiger das | |
Alter von 67 nicht erreichen oder vorzeitig dienstunfähig werden als | |
Dünne.“ Der Forscherin sei es schließlich gelungen, ihre Einstellung | |
durchzusetzen. „Aber das schaffen längst nicht alle.“ | |
## Willkürliche Grenzwerte | |
Rund die Hälfte aller Deutschen gilt als übergewichtig. „Diese Grenzwerte | |
sind willkürlich festgelegt“, sagt der Sozialforscher Friedrich Schorb. | |
Doch das Dicksein sei durchweg negativ besetzt: im Beamtenrecht, im | |
Gesundheitswesen, in Medien und Alltag: „Dicke sind die letzte | |
gesellschaftliche Gruppe, die man ungestraft diskriminieren kann“, sagt | |
Schorb. | |
Die Gesellschaft zu ändern, nicht die Dicken, das ist das Ziel der GgG. | |
„Wir wollen, dass die natürlichen Gewichtsunterschiede gewürdigt werden“, | |
sagt von Liebenstein. Dabei könnten die Dicken „viel von der Schwulen- und | |
Lesbenbewegung“ oder auch den Disability Studies – der | |
Behinderungsforschung – lernen. Schließlich kämpfen auch die Dicken um | |
Barrierefreiheit, etwa im Nahverkehr, oder um Schutz vor verbalen | |
Angriffen. | |
Zum Anti-Diät-Tag am Sonntag hat die GgG den deutschen Medien geschrieben: | |
Die würden Dicke „fast nur negativ“ zeichnen, zeigten sie als faul und | |
gefräßig. „Fragen Sie sich einmal, ob nicht Ihre eigene Angst oder Abscheu | |
vor dem Dicksein die Berichterstattung beeinflusst.“ | |
## Sechs Äpfel am Tag | |
Schließlich „brennen sich die Entwertungen in das Erleben dicker Menschen | |
ein und werden unbewusst übernommen“, sagt die GgG-Aktivistin Sabine | |
Fischer. Seit ihrem 6. Lebensjahr ist sie hochgewichtig. Schon im | |
Grundschulalter habe die Familie sie von einer Diät in die andere gesteckt: | |
sechs Äpfel am Tag, wochenlang. Mit elf Jahren kam sie in eine | |
Kinderklinik, zur Nulldiät. „Ein Leben ohne Gewichtsdiskriminierung kenne | |
ich in Ländern mit westlichem Einfluss nicht“, sagt Fischer. Beruflich habe | |
sie Afrika bereist. Dort gilt Leibesfülle oft als Zeichen von Wohlstand – | |
und als ansehnlich. „Dort zu sein, war eine unglaubliche und wohltuende | |
Erfahrung“, sagt Fischer. | |
Beruflich trainiert die Pflegepädagogin Ärzte und Pfleger im Umgang mit | |
Hochgewichtigen. „In meinen Seminaren stelle ich immer wieder massive | |
Ressentiments fest. Dann heißt es: Die ’Fetten‘ sind ja eklig, die stinken, | |
die machen nicht mit.“ Da sei es „manchmal schwierig, die Fassung zu | |
wahren“ und in der professionellen Rolle zu bleiben. „Nach außen | |
entsprechen viele Dicke dem Klischee: humorvoll und gesellig, gemütlich“, | |
sagt Fischer. | |
Tatsächlich litten viele an einem „dramatischen Selbstwertverlust“: In ihre | |
Beratungspraxis würden erwachsene Männer mit hohem BMI kommen, die „noch | |
nie von einer Frau gestreichelt wurden“. Sie erlebe diese Klientel als | |
„präsuizidal“, immer wieder hätten sie Interesse an sogenannten | |
bariatrischen Operationen. „Das ist für sie die letzte Hoffnung, um | |
dazuzugehören.“ Schwere Störungen des Körperschemas oder Zwangshandlungen | |
sind mögliche Folgen solcher Eingriffe, sagt Fischer und nennt sie | |
„mutwillige Verstümmelungen“. „Stattdessen müssen Dicke begreifen, dass… | |
trotz ihres Gewichts wertvolle Menschen sind.“ | |
*Name geändert | |
6 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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