# taz.de -- Sachbuch über Unhöflichkeit: Die Königin ist kein Mensch | |
> Verwüstete Hotelzimmer gehörten im Pop einst zum guten Ton. Thomas | |
> Mießgangs „Scheiß drauf!“ ist eine Kulturgeschichte der Unhöflichkeit. | |
Bild: Sehen brav aus, waren aber auch Rebellen: die Beatles. | |
Höflichkeit ist eine Zier, mit der sich einige nicht schmücken können, weil | |
sie es nicht richtig gelernt haben. Oder nicht schmücken wollen, weil sich | |
mit dem Zersingen des guten Tons, dem Bruch mit der Verhaltensnorm ihr | |
Nonkonformismus augenfällig in Szene setzen lässt. Es gibt eine schöne | |
Tradition der Unhöflichkeit. Vor allem die Popgeschichte ist eine | |
Geschichte der Dissidenz, da gehört die Rotz- und Rüpelattitüde zum | |
Kommang. Wer hip sein will, tritt am besten gleich mal einen Spießer in den | |
Arsch. Möglichst mit Anlauf. Das ist noch kein Beweis für Hipness, aber ein | |
Indiz. | |
Eine ziemlich forcierte und zugleich ritualisierte Spielart dieses | |
Beleidigungskonzepts ist die Bühnen- und Hotelzimmerverwüstung. Das | |
britische Quartett The Who hat sich hier besonders hervorgetan. Gitarrist | |
Pete Townshend und Drummer Keith Moon pflegten mit Hingabe ihr | |
Spießerschreck-Image und ließen am Ende des Abends bei „My Generation“ | |
keinen Stein auf dem anderen. Après Show ging’s weiter. | |
Vom Who-Schlagzeuger erzählen die Rockchroniken folgende zauberhafte | |
Anekdote. Die Band ist on the Road. Moon verlässt das Hotel und setzt sich | |
in die Limousine, mit der man ihn zum nächsten Auftrittsort chauffiert. | |
Nach einer Weile bekommt er eine Art Panikattacke und befiehlt dem Fahrer, | |
sofort umzukehren. Zurück im Hotel, rennt er in seine Suite und wirft den | |
Fernseher durchs geschlossene Fenster. Mit viel Geschepper landet der im | |
Pool. Danach steigt er mit erleichtertem Seufzen wieder in die Limo. „Das | |
hätte ich fast vergessen.“ | |
John Bonham von Led Zeppelin – auch Schlagzeuger, diese Spezies stellt | |
offenbar die meisten Psychopathen im Rock – war ebenfalls ein großer | |
Konventionenschänder. Einmal entleerte er seinen Darm in den Schuh eines | |
Groupies. Die Frau fühlte sich dadurch jedoch keineswegs beleidigt. Im | |
Gegenteil. Als Bonham ihr am folgenden Tag über den Weg lief, sprach sie | |
ihn gut gelaunt an. „Kennst du mich noch? Du hast gestern in meinen Schuh | |
geschissen! Ich möchte euch für den wunderbaren Abend danken!“ | |
## Politisch motivierte Verstöße | |
Neben diesem intuitiven und kaum – wenn, dann nur im Sinne der | |
Selbstprofilierung – kalkulierten Rabaukentum existieren aber auch | |
politisch motivierte Verstöße gegen den Konsens der guten Manieren. John | |
Lennons vielzitierte Anmoderation von „Twist And Shout“ vor dem mit Königin | |
Mutter, Lord Snowdon und Prinzessin Margaret illuster besetzten Publikum | |
der „Royal Variety Show“ 1963 klang da vergleichsweise charmant: „Für | |
unsere letzte Nummer bitte ich Sie um Ihre Mithilfe. Die Leute auf den | |
billigen Plätzen klatschen bitte in die Hände. Der Rest braucht nur mit den | |
Juwelen zu rasseln.“ | |
Anderthalb Jahrzehnte später überboten die Sex Pistols solche | |
antiaristokratische Unverschämtheit locker mit ihrem rausgerotzten „God | |
save the Queen / She ain’t no human being“. „Unhöflichkeit war also immer | |
auch eine Form des symbolischen Klassenkampfes“, konstatiert Thomas | |
Mießgang in seinem lesenswerten Essay „Scheiß drauf. Die Kultur der | |
Unhöflichkeit“. | |
Im unmanierlichen Verhalten äußert sich auch das Anliegen einer | |
gesellschaftlichen Gruppe, das sonst möglicherweise ungesagt geblieben oder | |
doch jedenfalls nicht so suggestiv benannt worden wäre. Die „Anarchy in the | |
UK“-Forderung der Sex Pistols oder die defätistische Zeitansage von The | |
Clash „London calling to the faraway towns / Now war is declared, and | |
battle come down“ waren unmissverständliche Reaktionen auf die | |
gesellschaftliche Depression der späten siebziger Jahre, auf | |
Arbeitslosigkeit, Massenarmut und den daraus resultierenden Rassismus in | |
England. | |
## Die Rabiatesse des HipHop | |
Eine solche Rabiatesse erreichte der Pop danach erst wieder im HipHop. Auch | |
dessen grobianisches Denunzierungsidiom beleidigt nicht nur die weiße | |
Mainstreamkultur, es kündet ganz konkret von Klassen- und | |
Rassendifferenzen, von einem gewachsenen schwarzen Selbstbewusstsein, von | |
der Solidarität der Homies, aber auch von Misogynie und | |
Blingbling-Geilheit, hat also im Kern eine gesellschaftspolitische | |
Motivation. | |
Sogar ein weißer Egghead wie Mark Greif, der es mit dem von ihm begründeten | |
Magazin n+1 geschafft hat, Dickdenker-Essayistik sexy erscheinen zu lassen, | |
schwärmt im Essay „Rappen lernen“ vom Nuancenreichtum und der | |
Realitätssättigung dieser Musik, „die auch heute noch mehr über die | |
Gegenwart zu sagen hat als andere Kunstformen“. | |
Aber gerade Punk und HipHop zeigen eben einmal mehr die Ambivalenz der | |
Rüpelei innerhalb des geschlossenen Systems Marktwirtschaft. Ihre | |
Exponenten inszenieren sich gern als Abtrünnige, die die kapitalistische | |
Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern und am besten gleich noch das | |
Unterste nach oben kehren wollen. Genauso können sie jedoch auch als bloße | |
Funktion eines Systems gelesen werden, das sich an den Rändern ein bisschen | |
Devianz erlaubt, weil es dabei neue Produkte generiert, die sich dann in | |
den großen Verwertungskreislauf wieder einspeisen lassen. | |
Aber in Zeiten schrumpfender Gewinnmargen will sich die Kulturindustrie | |
diesen Kreativspielplatz offenbar immer weniger leisten. Man verlegt sich | |
aufs Kerngeschäft. „Exzesse, Medienattacken und offensives Betragen“, weiß | |
Mießgang, „unterliegen bei verschärften Konkurrenzbedingungen einem | |
Verdikt. Im Rockgeschäft der Gegenwart gilt mehr denn je: Wer Kohle | |
ranschafft, darf bleiben, wer Ärger macht, fliegt raus.“ | |
## Effizienzpostulat statt Gezicke | |
Übrigens nicht nur im Rock. Das Effizienzpostulat der modernen | |
Leistungsgesellschaft hat auch die Popindustrie so sehr durchdrungen, dass | |
für unbotmäßiges Verhalten kein Platz mehr ist. Bestes Beispiel: | |
Castingshows, Kaderschmieden der Ikonen von morgen. Vor allem bei „The | |
Voice of Germany“ herrscht eine so produktive, durch und durch | |
professionelle Arbeitsatmosphäre, da bleibt gar kein Platz mehr für Gezicke | |
(sonst stets das nötige Salz in der Suppe des Reality-Formats). | |
Die Coaches versuchen die Performance-Leistung ihrer Kandidaten zu | |
optimieren, Interpreten, die meist seit Jahren als Profimucker arbeiten, | |
lassen sich willig schleifen, pflegen immer höfliche, beste kollegiale | |
Verhältnisse zu ihren Kombattanten. Selbst beim Verlieren bedankt sich | |
jeder für die unschätzbare Erfahrung, die er im Bootcamp des Pop machen | |
durfte. | |
Hier herrscht ein Leistungsethos wie in einem modernen Wirtschaftsbetrieb, | |
der eben nicht mehr nur Qualität von den Mitarbeitern verlangt, sondern | |
allzeit gute Laune. Ein genialischer Soziopath, ein größenwahnsinniger | |
Charakterkopf hätte in dieser Pop-Eliteeinheit gar keine Chance, weil sich | |
alle nur als Rädchen im großen Businessgetriebe verstehen sollen. Die | |
Stromlinienförmigkeit all dieser Karrieristen ist zum Gruseln. | |
Und nicht mal HipHop ist noch das, was er mal war. Wer verbal oder auch mit | |
vollem Körpereinsatz über die Stränge geschlagen hat, wie Sido im letzten | |
Herbst beim ORF, als er einen Pop-Paparazzo vor laufender Kamera | |
ausknockte, macht den Kotau vor dem großen Publikum. Er entschuldigt sich, | |
um bei der nächsten Staffel wieder dabei sein zu können. Das sind die | |
richtigen Gangsta. | |
14 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
## TAGS | |
Popmusik | |
Sido | |
John Lennon | |
Rebellion | |
Essay | |
Volkswagen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Volkswagen und die Rockmusik: Familienglück statt Groupie-Sex | |
Der Tourbus ist ein mythischer Ort – und eine aussterbende Gattung. Das | |
zeigt der Versuch von VW, den Multivan Highline als Tourbus zu inszenieren. | |
Die Rückkehr des Punkrock: Ich! Bin! Wütend! | |
Punkrock ist wieder voll da. Mit Slime, den Toten Hosen und den Ärzten in | |
den deutschen Albumcharts und weltweit sowieso. Über die Aktualität der | |
musikalischen Wut. | |
Interview über die Rockerjahre Roy Blacks: "Dieser Krach war Rebellion" | |
Günter Ortmann, Pianist von Roy Black & The Cannons, über Blacks frühe | |
Karriere in einer Rock'n'Roll-Band und die privaten Seiten des vor 20 | |
Jahren verstorbenen Sängers. | |
"The Clash"-Interviewband: Gott schütze Königin, Krawall + Glamour | |
Politischer als die nihilistischen Sex Pistols: Die britischen Punkpioniere | |
von The Clash waren mehr als eine Agitpropband. Ein Fanbuch zeichnet ihre | |
Geschichte nach. | |
Tod von Malcolm McLaren: Vielen Dank für den Punk! | |
Als Manager der Sex Pistols verband Malcolm McLaren Kunst und Mode, Pop und | |
Gesellschaftskritik. Am Donnerstag ist er 64-jährig einer Krebserkrankung | |
erlegen. |