# taz.de -- Die Wahrheit: Wüster Service | |
> Manche Wüsten sind lebensfeindliche Umgebungen, die Servicewüste gehört | |
> nicht dazu. Sie ist ein Refugium vor den Anfechtungen des | |
> Höflichkeitsterrors. | |
Bild: Im Nettnapf der Höflichkeitshölle. | |
Der Deutsche will immer der Beste sein. Platz zwei bei einer | |
Weltmeisterschaft empfindet er als Blamage. Sind seine Kinder in einer Art | |
internationalen Klassenarbeit nur mittel, quält er die nächsten zwanzig | |
Generationen mit all dem Wissen, das ihre Eltern nie gelernt haben, damit | |
sie die Kinder anderer Länder überholen mögen. Nichts wurmt den Deutschen | |
mehr, als zugeben zu müssen, dass andere in irgendetwas besser sind als er. | |
Als gegen Ende des vorigen Jahrtausends der Spiegel die „Servicewüste | |
Deutschland“ ausrief, wurden sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt, | |
Deutschland zum kundenfreundlichsten Land der Welt zu machen. Seitdem | |
werden Einzelhandelskaufleute, Bäckereifachverkäuferinnen und | |
Kaffeehauskellnerinnen in endlosen Coachings gequält, um fortan uns Kunden | |
mit aufgesetzter und penetranter Freundlichkeit zu quälen. | |
Die Verabschiedung von einer Kassiererin im Supermarkt nach dem Kauf von | |
Kartoffeln und Suppengrün fällt inzwischen herzlicher aus als der | |
Glückwunsch zur Goldenen Hochzeit an die eigenen Eltern: | |
Kasse: „War alles zu ihrer Zufriedenheit? Konnten wir alle ihre Wünsche | |
erfüllen? Haben Sie sich wohlgefühlt bei uns?“ | |
Kunde (brummt): „War okay.“ | |
Kasse: „Dann herzlichen Dank für Ihren Einkauf. Ich wünsche einen schönen | |
Feierabend, und beehren Sie uns bald wieder.“ | |
Kunde (leiser): „Danke“ | |
Kasse: „Danke auch!“ | |
Kunde (skeptisch): „Danke wofür?“ | |
Kasse: „Für Ihren Dank!“ | |
Kunde (sehr skeptisch): „Sie bedanken sich, weil ich mich bedankt habe?“ | |
Die Kassendame drückt unauffällig einen Knopf. Zwei Männer in schwarzen | |
Uniformen erscheinen aus dem Nichts, ein kleiner Dicker mit Brille und ein | |
Zweimeter-Muskelmann mit Bürstenhaar und Nackentattoo. | |
Muskelmann: „Einen wunderschönen Guten Tag der Herr, dürfen wir behilflich | |
sein?“ | |
Der Dicke forsch: „Was mit die Kartoffels nicht in Ordnung?“ | |
Muskelmann: „Lässt unser Service zu wünschen übrig? Das passiert manchmal | |
im neoliberalen Stresszusammenhang.“ | |
Der kleine Dicke: „Oder mit die Möan?“ | |
Inzwischen haben die Sicherheitskräfte den Kunden durch sanftes, aber | |
bestimmtes Zupacken an seinen Armen von der Kasse wegbugsiert, um in Ruhe | |
den Servicediskurs zu führen. | |
Muskelmann: „Sagen sie es uns, wenn der Kundenkontakt unserer | |
Budget-Hostess semiadäquat war. Die objektiven kapitalistischen | |
Verwertungszusammenhänge rufen bei unserem Servicepersonal unter Umständen | |
partielle subjektive Dissozialität hervor. Können wir noch etwas für sie | |
tun?“ | |
Kunde: „Vielleicht könnten sie künftig eine konversationsfreie Kasse für | |
Menschen öffnen, die Höflichkeitsterror nicht mögen.“ | |
Die Securitys unisono: „Wie der Herr wünschen.“ | |
Eine Minute später findet der Kunde sich vor dem Supermarkt wieder, auf dem | |
Boden sitzend, um ihn herum lose Kartoffeln und Möhren, in der | |
Steißbeingegend einen dumpfen Schmerz verspürend. Servicewüste war gestern. | |
Heute ist Höflichkeitshölle. | |
29 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Joachim Frisch | |
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