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# taz.de -- Die Wahrheit: Feldversuch mit Pfefferspray
> Die Macht des sichtbaren Zeichens kann zwar noch nicht Berge versetzen,
> dafür aber bei Weltmeisterschaften und anderem Gedöns sehr weiterhelfen.
Bild: Ganz praktisch eigentlich
Sprühsahne und Pfefferspray. Das sind die Dinge, die in Erinnerung bleiben
werden von dieser WM. Außerhalb der Stadien hilft das Pfefferspray,
Proteste gegen die Linie von Fifa und Finanzkapital zu vereiteln, in den
Stadien hilft die Linie aus Sprühsahne, renitente Fußballprofis zu zähmen.
Zumindest die Sprühsahne funktioniert nahezu perfekt.
Was war das bislang bei Fußballturnieren jedes Mal für ein Gezeter, bis die
Abwehrmauern bei Freistößen auf Abstand gebracht waren. Nun genügt ein
hingesprühter, zittriger Strich auf dem Rasen, um hyperaktive, vor
Adrenalin und Testosteron berstende Gladiatoren mit kannibalistischen
Neigungen in artige Befehlsempfänger zu verwandeln. Dass dies funktioniert,
liegt an einer zutiefst menschlichen Eigenschaft.
Der Mensch reagiert nun mal nicht auf Vernunft, Logik oder das bessere
Argument, sondern auf sichtbare Zeichen. Wir glauben nicht an das, was wir
wissen, sondern an das, was wir sehen, an den Augenschein. Diese
psychologische Bauernregel schlägt sich in den Lehren sämtlicher
Weltreligionen nieder. Dort genügt sogar die schwungvoll vorgetragene
Behauptung, etwas gesehen zu haben, um Millionen Follower um sich zu
scharen.
Den Beweis, dass diese These von der Macht des sichtbaren Zeichens immer
und überall gilt, lieferte neulich ein eindrucksvoller Feldversuch in der
Hamburger City im Rahmen eines Radioballetts. Beim Radioballett erhalten
Teilnehmer auf gleicher Wellenlänge per Kopfhörer Informationen, die sie
sogleich inmitten ahnungsloser Passanten in Taten umsetzen. In diesem Fall
kam von dem Freien Sender Kombinat FSK die Anweisung, mit Kreide eine
persönliche Grenze auf dem Bürgersteig zu markieren und diese Grenze gegen
jedwede Überschreitung zu verteidigen.
Es funktionierte perfekt. Ein wackliger Kreidestrich, eine freundliche
Geste mit ausgestreckter Hand und gespreizten Fingern, und schon nehmen zu
allem entschlossene Shopping-Hooligans, die ansonsten weder die Grenzen des
eigenen Girokontos noch diejenigen des guten Geschmacks respektieren, ohne
Murren einen Umweg in Kauf. Durch diese einfache Geste ist es gelungen, im
heiligen Gral kapitalistischer Verwertung dessen Strategie der entgrenzten
Verfügbarkeit wenigstens für einen Augenblick außer Kraft zu setzen.
Ob die Macht des sichtbaren Zeichens auch im Zusammenspiel mit dem zweiten
nachhaltigen Symbol dieser WM, dem Pfefferspray, funktioniert? Man stelle
sich vor: martialische Polizei-Kampfeinheiten in Aggro-Schwarz, voller
Adrenalin und Testosteron, stürmen wild entschlossen und beißwillig auf
Demonstranten zu, die Pfefferspraydose im Anschlag. Statt die Hände aber
schützend vor das Gesicht zu halten, zückt ein Protestierer seinerseits
eine kleine Sprühdose, kniet nieder, markiert in souveräner Schiri-Manier
eine gut sichtbare Linie zwischen sich und den Cops und bedeutet mit einer
friedlichen, doch bestimmten Geste, diese territoriale Grenze bitte zu
respektieren.
Das wäre einen Versuch wert. Nicht erst zur nächsten WM.
14 Jul 2014
## AUTOREN
Joachim Frisch
## TAGS
WM 2014
Pfefferspray
Sprachkritik
Champions League
Revolution
Integration
Supermarkt
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