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# taz.de -- Inselstaat Saint Lucia: Der sanfte Sound der Karibik
> Kreolisch gilt als Synonym für das Crossover der Kulturen. Es hat auf St.
> Lucia einen festen Platz in der Popmusik, der Küche und der Kunst.
Bild: Der Große und Kleine Piton von Saint Lucia.
Castries, 5 Uhr 30 morgens: Es ist noch dunkel. In der Hauptstadt St.
Lucias laufen bereits die Transistoren heiß. Sam Flood stürzt sich in den
Tag. Und die Stimme des 42-Jährigen hat wieder einmal diesen drängenden
Tonfall. Flood ist Radiomoderator und eine Legende. Juke Bois nennen sie
ihn hier. Das heißt so viel wie: der Mann, der die Missstände „aufspießt�…
In seiner Morgensendung kümmert sich Flood um die alltäglichen
Ungerechtigkeiten: Ein neuer Fall von Korruption, Polizeiwillkür,
Verschwendung öffentlicher Gelder? Flood prangert die Schludrigkeit der
Behörden an, die Ignoranz von Politikern. Niemand und nichts ist vor seiner
beißenden Ironie sicher. Dafür lieben ihn seine Hörer. Umso mehr, als er zu
ihnen nicht in der offiziellen Landesprache Englisch spricht, sondern in
der ihrer schwarzen afrikanischen Vorfahren: in Kreolisch.
Mitte des 17. Jahrhunderts verschleppten die Europäer Menschen aus den
verschiedensten Regionen Afrikas in die neuen Kolonien Westindiens. Dort
mussten sie als Sklaven arbeiten, und sie entwickelten dabei eine eigene,
allen gemeinsame Sprache.
Dabei bildeten sich allmählich eine eigene Grammatik, Syntax und Phonetik
heraus. Es entstand eine neue Muttersprache, mit der die nachfolgenden
Generationen aufwuchsen. Kreolisch, eine weiche Verbindung aus
afrikanischen Stammesidiomen und Französisch, wird heute auf Karibikinseln
wie Grenada, Trinidad oder Haiti gesprochen.
Kolonialherren und Missionare, immer in Angst vor Aufständen, verboten
jahrhundertelang den Sklaven, in ihrer eigenen Sprache miteinander zu
reden. Erst als St. Lucia 1979 unabhängig wurde, erlebte Kwéyòl, wie die
St. Lucians ihre Sprache auf Kreolisch nennen, eine Renaissance.
„Während meiner Kindheit verboten mir sogar meine Eltern Kwéyòl zu
sprechen, obwohl sie selbst kein Englisch konnten“, erzählt Primus
Hutchinson. Er machte Kreolisch in der Öffentlichkeit wieder salonfähig.
Wir treffen den Vater des kreolischen Fernsehens und Radios in einem Café:
„Meine Eltern hielten Kreolisch für rückwärtsgewandt, für ein Zeichen
mangelnder Erziehung. Auch in der Schule war es verboten. Ich fand das
damals schon sehr erniedrigend.“
Klein und spindeldürr sitzt uns Hutchinson gegenüber. Kaum ein Wort ist dem
72-Jährigen Rentner nach der Begrüßung zu entlocken. Erst als wir ihn nach
den Anfängen seiner „Mission“ fragen, sprüht er vor Energie.
Vor mehr als 20 Jahren fing er an, für die Regierung Sendungen auf Kwéyòl
zu produzieren. Zuerst nur Nachrichten, dann Features, Dokumentationen und
Musiksendungen. Sein Erfolg stehe für die späte Anerkennung des
Kreolischen, so Hutchinson.
## Warten in der Garküche
Markttag in Castries: Frauen feilschen an den Holzständen, die sich unter
exotischen Früchten und Gewürzen biegen. Obwohl es noch Vormittag ist,
stehen im Dampf der Garküchen schon die ersten Hungrigen. Aus den Pfannen
steigt scharfer Hühnchenduft auf. Reis- und Fischgerichte werden
zubereitet.
Die Inselküche vereint das Beste vieler Welten. Indische Curries mischen
sich mit afrikanischem Yams, Brotfrucht und Okra. Spezialitäten sind
Callaloo-Suppe aus einer Spinatart, der indianische Pepperpot Stew, ein
feuriger Eintopf mit Cassava-Wurzeln, viel Gemüse und Fleisch, und Pelau,
eine Fisch-, Reis- und Erbsenpfanne, die spanischer Herkunft ist. Hier im
Alltag ist die Sprache der St. Lucians allgegenwärtig.
Ein melodischer Wortfluss, der aus den harten Rs ein gehauchtes W macht,
Konsonanten wie Q und X nicht kennt, mit Akzenten die Vielfalt der Vokale
steigert. Wer gut Französisch spricht, kann sich schnell verständlich
machen und versteht auch ein wenig von dem, was um ihn herum gesprochen
wird.
## Unterwegs im Bus
Gleich gegenüber dem Markt halten die Busse. Menschen drängeln sich vorbei.
Jeder will einen Sitz in den kleinen Minivans haben, die in rasanter Fahrt
um die ganze Insel kurven. Umgerechnet 2,50 Euro kostet die Fahrt in den
Süden. Billiger kann man nicht von Ort zu Ort reisen.
Wir fahren an den beiden Wahrzeichen St. Lucias vorbei: den Pitons, zwei
fast achthundert Meter hohen Vulkankegeln. Bei Laborie steigen wir aus.
Oberhalb des Fischerdorfes mit dem malerischen Palmenstrand wohnt Joseph
John mit seiner deutschen Frau. Er hat viele Jahre in Deutschland gelebt.
Heute ist der ehemalige Fremdenlegionär Schamane. Kontakt zur Götter- und
Geisterwelt aufzunehmen, das ist sein Geschäft.
Mit seinem bulligen Glatzkopf ist Joseph eine imposante Erscheinung: Er
trägt einen schwarzen Kampfanzug; an seinem Hals baumeln schwere Ketten,
Amulette und ein veritabler Totenkopf. Zu Joseph kommen die Leute, wenn sie
Heilung und Hilfe brauchen. Und selbstverständlich spricht und behandelt er
sie in ihrer Sprache. Das schaffe Vertrauen, sagt Joseph.
## Hilfe gegen Schmerzen
Ein Landarbeiter trottet in der Hitze zum Haus hinauf. Er hat starke
Gliederschmerzen. Wie ein Häufchen Elend hockt sich der Mann auf den Stuhl
im Behandlungszimmer. Joseph fährt ihm mit der Hand über Arme, Schultern
und Nacken. Er drückt sie ihm gegen Bauch und Stirn, fragt, wo es wehtut.
Schon nach einer Viertelstunde spürt der Patient, wie Wärme durch seinen
Körper fließt, wie sich die Spannung in den Muskeln löst.
Zufrieden steht er auf, bezahlt und geht. Die Menschen vertrauten seiner
Kraft zu heilen nur, wenn er in ihren Augen glaubwürdig sei, sagt Joseph.
Dazu gehöre nun einmal, dass er sie in Kwéyòl behandelt, weil es seine
Patienten gewohnt seien, darin ihre Sorgen und Nöte auszudrücken. Und
natürlich sei auch sein „Arztkoffer“ wichtig, der auf seiner Brust prangt
und der jedem Voodoopriester zur Ehre gereichen würde: eine buddhistische
Gebetskette und eine Adlerkralle.
## Die Sprache der Vorfahren vergessen
Während Kreolisch im Alltag der St. Lucians lebendig ist, tat sich die
geistige Elite der Insel damit deutlich schwerer. Künstler, Politiker,
Wissenschaftler – wer auch immer etwas auf sich hielt, hatte eine streng
britische Ausbildung genossen. Viele beherrschten die Sprache ihrer
Vorfahren gar nicht mehr. Selbst Literaturnobelpreisträger Derek Walcott
aus Castries, der stets den Kulturimperialismus der europäischen
Kolonialherren verdammt hatte, schrieb ausschließlich auf Englisch.
Mittlerweile ist Kreolisch aus dem Kulturbetrieb St. Lucias aber nicht mehr
wegzudenken. Im Theater, in der Musik, in den Medien findet die Sprache der
schwarzen Vorfahren im öffentlichen Leben immer größere Anerkennung.
Kürzlich wurden gar Teile des Neuen Testaments ins Kreolische übersetzt.
Das neue sprachliche Selbstbewusstsein zeigt sich auch in der Politik: Die
Generalgouverneurin St. Lucias, Pearlette Louisy, eine
Sprachwissenschaftlerin, hält ihre Parlamentsreden auch in der
Landessprache. Vor gut 30 Jahren wäre das noch unmöglich gewesen.
Seit einiger Zeit bemüht sich das Folk Research Centre in Castries um den
Erhalt von Kwéyòl. Dort versucht man, das sprachliche Erbe St. Lucias
digital zu archivieren und für jedermann zugänglich zu machen. Kentry
Jeanpierre arbeitet in einer heruntergekommenen Villa hoch über dem
Stadtzentrum. Dass es hier an Geld mangelt, ist auf den ersten Blick zu
sehen. Es ist kahl und schmucklos, in seinem Büro stehen zwei Stühle, ein
Schreibtisch, Telefon und ein alter PC.
## Auf Spenden angewiesen
Kentry organisiert die Arbeit des Instituts mit bescheidenen finanziellen
Mitteln. Das meiste Geld wird gespendet, sagt Kentry: „Wegen unserer
kolonialen Geschichte schauen die Leute erst mal ins Ausland, wenn es um
die Zukunft unseres Landes geht. Wir hier im Folk Research Centre wollen
zeigen, dass wir stolz auf uns selbst sein können. Und wir wollen auch die
St. Lucians dazu ermutigen, dies als Realität anzuerkennen.“
Deshalb hat das kleine Forschungszentrum angefangen, alle Tonaufnahmen in
Kwéyòl zu sammeln, die auf der Insel zu finden sind. Bis jetzt sind es über
2.000, meist auf alten Tonbändern und in schlechtem Zustand. Das Material
aufzubereiten, zu digitalisieren und ins Internet zu stellen, ist das
wichtigste Ziel. Und die größte Herausforderung. Denn öffentliche Gelder
gibt es kaum dafür.
Am nächsten Morgen fahren wir nach Bouton, einem kleinen Dorf nahe der
Inselhauptstadt. Dort balanciert hoch auf dem Kliff das Schulhaus der
Bouton Combined School. Mit Geldern der deutschen Entwicklungshilfe wurde
gerade die neue Küche der Grundschule eröffnet. Ausländer sieht man hier
nur sehr selten. Dementsprechend aufgeregt sind die Kinder, als wir aus den
Wagen steigen. Etwa zwanzig Mädchen und Jungen zwischen acht und zwölf
Jahren kommen aus den drei Klassenräumen. Sie versammeln sich im Schatten
eines alten Baumes auf dem kleinen Platz vor dem Gebäude. Sie umschlingen
unsere Beine, greifen nach unseren hellen Haaren, lachen.
## Kinderlieder auf kreolisch
Einige Mutige fragen uns auf Englisch, woher wir kommen. Bernadette
Southwell, die Direktorin, ruft sie geduldig zur Ruhe. Denn sie sollen für
uns kreolische Kinderlieder singen.
„Englisch und Kwéyòl müssen sich in der Schule ergänzen“, sagt Bernadet…
Southwell, eine bedächtige Frau in dunkelgrauem Kostüm: „Beide Sprachen
müssen parallel unterrichtet werden, damit unsere Kinder optimale
Zukunftschancen haben.“
Über 30 Jahre Schuldienst liegen bereits hinter Bernadette Southwell, Zeit
genug, sich Gedanken über den Sprachenkonflikt auf St. Lucia zu machen:
„Wenn wir das schaffen, glaube ich nicht, dass die Sprache unserer Eltern
in Gefahr ist“, ist sie sich sicher. „Das Problem ist, dass die Leute zwar
Kreolisch sprechen, viele aber nicht schreiben können. Lange Zeit gab es
keine festgelegte Orthografie. Wir hatten die Schrift nicht formalisiert,
um sie als Sprache unterrichten zu können.“
## Kreolisches Wörterbuch
Gerade einmal zwanzig Jahre ist es her, dass der Dorfschullehrer Jones
Mondesir aus Soufrière das erste kreolische Wörterbuch schrieb. Erst seit
2001 gibt es eine kind- und schulgerechte Version, das Kwéyòl Dictionary.
Es wird herausgegeben vom Erziehungsministerium St. Lucias. Auch die Kinder
der Bouton Combined School lernen damit.
Kreolisch gewinnt wieder an Einfluss auf St. Lucia, da ist sich Bernadette
Southwell sicher: „Für uns St. Lucians hat es eine große geschichtliche
Bedeutung. Die Sprache sagt uns etwas über unsere Herkunft, woher wir
kamen, wo wir begannen und wo wir heute stehen. Als die Sklaven in die
Karibik kamen, brauchten sie eine Sprache, um sich miteinander zu
verständigen. Wir als Volk müssen unseren Ursprung kennen. Und Kreolisch
erinnert uns daran, wer wir sind.“
Am nächsten Morgen ist Sam Flood wieder auf Sendung und wettert gegen die
Ungerechtigkeiten auf St. Lucia. Die Menschen werden ihn weiter dafür
lieben, dass er so redet wie sie selbst – auf Kwéyòl.
1 Feb 2014
## AUTOREN
Michael Marek
## TAGS
Karibik
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Hanf
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