# taz.de -- Die Wahrheit: Berliner Freundlichkeiten | |
> Tagebuch einer Vorsichhinmurmlerin: In der als unfreundlich verrufenen | |
> Hauptstadt geht es höflicher zu, als man denkt. Zumindest während der | |
> Berlinale. | |
Bild: Der einzige Türke in der Bahn: Kazim Akboga mit Nebendarstellern | |
Während der Berlinale führt tagelanges Sitzen in dunklen Sälen irgendwann | |
zu Desorientierung, so dass am Ende sogar S-Bahn fahren zur Herausforderung | |
wird. Zuerst schickt man den Begleiter nach Filmschluss zum falschen Gleis, | |
worauf – man sitzt bereits im Zug zur nächsten Vorstellung – eine | |
Beschwerde-SMS eingeht: „Bin unterwegs nach Oranienburg!“ Der Vorschlag, | |
die Notbremse zu ziehen, generiert die Mitteilung: „Bin in | |
Polizeigewahrsam.“ Mit derlei Albernheiten verbringt man seine Zeit, bis | |
man selbst in eine völlig unerwartete Station einfährt und hastig den Zug | |
verlassen muss. Nach mehrfachem Wechsel des Tranportmittels endlich Ankunft | |
im Kino. Zeit für ein Entspannungsbier. | |
Und plötzlich befindet man sich in einem selbstinszenierten Horrorfilm. | |
Kein Portemonnaie, nirgends. Nach einer Stunde Herumtelefonieren – Polizei, | |
BVG, Deutsche Bahn, Fundbüro – und Anflehen des Universums ist es | |
offiziell: Alles weg! Personalausweis, Führerschein, Kredit- und EC-Karte, | |
Bargeld, Bahncard, Talismane und so weiter. Identitätslos und pleite steht | |
man auf dem Nachhauseweg in der S-Bahn und landet in der | |
Fahrkartenkontrolle. Der Fahrschein, den man vor Kurzem aus dem verlorenen | |
Portemonnaie geholt hatte, schenkt immerhin noch zehn Minuten | |
Nahverkehrslegalität. Das war’s. | |
„Der Hausschlüssel ist noch da, das Handy auch, du bist gesund, und niemand | |
ist gestorben“. Von gegenüber starrt jemand, und es wird klar, dass der, | |
der da beschwörend vor sich hin murmelt, man selbst ist. Mit Verspätung | |
kommt der Schock, ein Gefühl, als würde man einstürzen. Tränen steigen | |
hoch, aber der Damm hält. Plötzlich eine Stimme: „Geht es Ihnen nicht gut? | |
Sie sehen so traurig aus.“ Die Frau auf dem Nebensitz ist jung, schön und | |
spricht mitfühlend mit slawischem Akzent. Und so geht es weiter. In der | |
Stammkneipe wird Wodka ausgegeben, Freunde bezahlen das Essen, bis ein Uhr | |
morgens wird mit einem Fremden über das Leben geredet, bis man als Freunde | |
auseinandergeht. | |
Morgens dann Wiederbeschaffungsmaßnahmen. Das Notfallplädoyer bei der | |
Führerscheinstelle wird beantwortet mit „Machen sich ma keen Stress. Kommse | |
übermorgen, wenn det mit dem richtjen bis dahin nich klappt, jibt’s solang | |
’nen internationalen.“ | |
Anruf beim Bürgeramt. „Für den Perso kann ich Ihnen morgen was um 14:36 (!) | |
geben. Ist aber im Wedding. Ach, ich seh grad, da kann man nur mit EC-Karte | |
bezahlen.“ – „Dann kommt eben ein Freund mit.“ Erleichterung bei der Da… | |
sie wünscht zum Abschied „alles Liebe“. Berlin braucht keine | |
„Premium-Freundlichkeitsinitiative“. | |
Anderntags um 14:38 Aufruf im Amt. Formalitäten, dann letzte Frage: „Ich | |
wohne ja woanders, soll ich den Perso hier abholen?“ – „Ja, aber nich am | |
Donnerstag um elf.“ – „Ist da zu?“ – „Nee, die komm’ immer alle d… | |
um elf, wieso, weeß keener.“ | |
Regelmäßiger Flashmob? Weil Premium-Bürger einfach gern aufs Premium-Amt | |
gehen? Feel the Love beim Danke sagen? Ach ja, und der Führerschein war am | |
nächsten Tag auch da. | |
19 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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