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# taz.de -- Proteste in Bosnien: Empörung und Wut
> In Bosnien herrschen Korruption und Vetternwirtschaft. Dagegen gehen
> Menschen aus allen sozialen Schichten auf die Barrikaden.
Bild: Ein Teilnehmer der sozialen Proteste in Sarajevo.
SARAJEVO taz | Fast täglich kann Emina bis mittags ausschlafen. Die
34-jährige Französisch- und Englischlehrerin hat an den normalen
staatlichen Schulen keinen Job gefunden. Nachmittags unterrichtet sie
einige Nachhilfeschüler, übersetzt auch manchmal Texte oder Untertitelungen
für das Fernsehen. Emina hangelt sich durchs Leben. Ohne Kranken- oder
Sozialversicherung.
Schon Anfang des Krieges 1992 waren ihre Eltern mit ihr nach Frankreich
geflohen, sie ging dort zur Schule, kam aber freiwillig vor 10 Jahren nach
Bosnien zurück. „Das ist meine Heimat, hier will ich leben“, sagte sie
damals. „Du brauchst Beziehungen, um einen festen Job zu bekommen“, stellt
sie heute resigniert fest. Deshalb geht sie zu den Demonstrationen. Sie
möchte das Land verändern. „Die Verwaltungen müssen doch endlich einmal
Leute gemäß ihrer Qualifikation einstellen.“
Ihre Freundin Sandra hat vor zwei Jahren bei einer Privatschule anheuern
können. Ein Onkel, der die Chefin kannte, brachte sie dort unter. Viele
bosnische Eltern wollen ihre Kinder gut ausbilden und geben ihren letzten
Groschen dafür. Mehrere Privatschulen bieten deshalb Sprachunterricht an,
Englisch, Deutsch und Französisch stehen hoch im Kurs.
Mit der Krise können aber viele Eltern diesen Zusatzunterricht nicht mehr
finanzieren. „Seit November bezahlt die private Schule mir noch 800 KM
(Konvertible Mark, rund 400 Euro), doch nicht mehr die Krankenkasse und
Alterssicherung“, sagt Sandra. Auch sie geht demonstrieren.
## Angst vor der Gewalt
Pedrag tut dies nicht. Er ist zwar gegen die „Diebe da oben, diese
Verbrecher“. Er hat aber Angst. Vor Gewalt und den Bränden. „So fing das
vor dem Krieg 1992 auch an. Feuer legen ist nicht gut.“ Pedrag hat gerade
seinen 45. Geburtstag gefeiert. Weil er im Krieg durch Granatsplitter
verwundet wurde, hinkt er etwas, er kann in seinem Beruf als Zimmermann
nicht arbeiten. 15 Jahre lang hat er geschmuggelte Zigaretten an den
Markthallen der Stadt verkauft. Das war illegal, doch erst seit einigen
Jahren kontrolliert die Polizei. Deshalb verkauft er jetzt ganz legal
Pfundweise fein geschnittenen Tabak aus der Herzegowina, „ökologisch rein,
die Leute haben kein Geld mehr für normale Zigaretten, sie drehen jetzt“.
Reicht das zum Leben? „Meine Frau ist Kassiererin in einem Supermarkt und
verdient 480 Mark im Monat (rund 245 Euro). Nachdem meine Eltern gestorben
sind, konnte ich ihre Wohnung übernehmen. Wir haben die ja nach dem Krieg
als Eigentum zugesprochen bekommen.“ Die Eigentumsgesetze sind wohl die
größte soziale Errungenschaft in Bosnien und Herzegowina. Trotz aller Armut
sieht man in Bosnien keine Obdachlosen. Wer bis zu einem Stichtag 1990
legal in einer Wohnung wohnte, die im alten Jugoslawien Volkseigentum war,
dem wurde nach 2000 die Wohnung als Privateigentum zugesprochen. Das gilt
auch für die Vertriebenen und Flüchtlinge.
„Sicherlich, das ist ein Stück soziale Sicherheit, für mich gilt sie
nicht.“ Faruk, der aus dem Drinatal stammt und dessen Eltern bei den
ethnischen Säuberungen 1992 ermordet wurden, gelang es, nach Sarajevo zu
fliehen. Als Soldat verteidigte er die Stadt und bekommt deshalb eine
kleine Rente als Veteran.
## Scham wegen sozialen Abstiegs
Aber wie alle ungefähr 200.000 Menschen, die am Anfang des Krieges nach
Sarajevo geflohen waren, hat er sein Leben in dieser Stadt neu aufbauen
müssen. Jetzt hat er Frau und Kinder. Als Techniker bei einer ausländischen
Institution angestellt, verfügt er über einen sicheren Job, konnte die
Wohnung einer serbischen Familie im Stadtteil Ilidza preisgünstig kaufen.
Obwohl es ihm gut geht, sympathisiert er mit den Demonstranten.
Die islamische Gemeinde und die SDA haben sich dagegen letzte Woche gegen
die Demonstranten gestellt. Der gleichaltrige Kemo ist ebenfalls Veteran.
Auch er wurde während des Krieges verwundet. In den letzten Jahren hat er
sich in einer NGO engagiert, die bei Supermärkten abgelaufene Lebensmittel
für die Bedürftigsten sammelt. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele
alte Leute hungern.“ Viele versteckten aus Scham ihre soziale Lage.
Immer mehr Menschen gehen nachts an die Tonnen, schrieb die Tageszeitung
Dnevni Avaz. „Rentner frieren in den Wohnungen und wissen nicht mehr, wie
sie die höheren Energiepreise bezahlen sollen.“ Kemo ist ein Demonstrant
der ersten Stunde. Seine Freunde und Nachbarn leben von Schwarzarbeit,
renovieren Wohnungen, legen Hecken an oder verdingen sich im Winter als
Schneeschaufler. Ausgebildete Akademiker fühlen sich glücklich, als
Taxifahrer arbeiten zu dürfen. „Diese Leute haben nichts mehr zu
verlieren“, sagte Kemo. Die Demonstrationen seien Ausdruck ihrer
Verzweiflung und ihrer Wut.
24 Feb 2014
## AUTOREN
Erich Rathfelder
## TAGS
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