# taz.de -- Meeressäuger in Nord- und Ostsee: Die Not der Schweinswale | |
> Der Schweinswal ist scheu und vielerorts vom Aussterben bedroht. Er | |
> könnte das Wappentier der Küstenregionen sein, aber er wird systematisch | |
> getötet oder nur pro forma geschützt. | |
Bild: Trägt Wale auf Händen: Eligius Everaarts von SOS Dolfijn. | |
LEER taz | Eligius Everaarts hält das Problem im direkten Wortsinn in | |
seinen Händen. Er ist Leiter der SOS-Dolfijn-Station in Harderwijk bei | |
Amsterdam. In der Auswilderungsstation für Schweinswale landen Lebendfunde | |
kranker, gestrandeter Meeressäuger aus Belgien, Nordfrankreich, den | |
Niederlanden und Deutschland. Etwa fünf bis 18 Tiere werden dort jährlich | |
von 70 Ehrenamtlichen betreut. Zurzeit werden dort drei Tiere versorgt. Ein | |
Tier ist so schwach, dass es seit Tagen rund um die Uhr auf Händen durch | |
das Beobachtungsbecken getragen werden muss. Oberstes Ziel der | |
spendenfinanzierten SOS Dolfijn ist die Auswilderung der Tiere. Ist dies | |
unmöglich, werden die Wale eingeschläfert. | |
## Scheinbar lächeln sie | |
Ihre hochgezogenen Maulränder zeichnen den Schweinswalen ein Lächeln ins | |
Gesicht. Aber sie haben absolut nichts zu lachen. Nach Zählungen von 1994 | |
und 2005 soll es bis zu 300.000 Schweinswale, auch Kleiner Tümmler genannt, | |
in der gesamten Nordsee geben. Etwa 50.000 schwimmen vor deutschen Küsten. | |
Man sieht sie selten, sie sind schreckhaft und scheu. Die nicht mal zwei | |
Meter langen Säugetiere springen nicht so überschwänglich wie ihre Vettern, | |
die Flipper. | |
Während ihr Bestand in der Nordsee relativ stabil ist, wird er in der | |
westlichen Ostsee mit etwa 18.000 Tieren bedenklich, in der östlichen | |
Ostsee, die Grenze liegt etwa bei Rügen, drohen sie mit weniger als 500 | |
Tieren auszusterben. Die Wale ersticken zu Tausenden als Beifang in | |
Stellnetzen, werden von Offshorewindparks vergrämt, die Suche nach Öl und | |
Gas mit sogenannten Airguns zerreißt sie, Munitionssprengungen zerfetzen | |
ihr Gehör und ihre Lunge, Umweltgifte verseuchen ihre Organe und | |
Fettgewebe. | |
Am zweiten Sonntag im Februar finden Spaziergänger am Strand Hooksiel bei | |
Wilhelmshaven einen gestrandeten, lebenden Schweinswal. Sie versuchen das | |
Tier ins Meer zurückzutragen. Die Wellen werfen es immer wieder an Land. | |
Nach einem Notruf bei der ostfriesischen Seehundaufzuchtsstation in | |
Norddeich kommt der Wal nach Harderwijk. Hier dümpelt „Bruno“ jetzt im | |
Beobachtungsbecken der SOS-Dolfijn-Station. „Wir geben den Tieren Namen, um | |
sie unterscheiden zu können“, meint Eligius Everaarts. | |
## Bruno aus Wilhelmshaven | |
„Bruno“ klingt wohl deutsch und hört sich nach Problemwal an. Bruno hat | |
zwar keine äußeren Verletzungen, aber das Männchen ist für seine sieben bis | |
acht Monate zu mager. „Schweinswalkälber lösen sich ab dem vierten, fünften | |
Monat von ihren Müttern. Ab dem dritten, vierten Jahr sind sie | |
geschlechtsreif und sterben mit ungefähr zwölf Jahren“, sagt Everaarts. | |
Bruno hat Magengeschwüre, seine Speiseröhre ist bis zum Schlund mit Pusteln | |
übersät. Er verliert Blut. „Sicher hat er auch Lungenwürmer, sein | |
Immunsystem ist geschwächt“, meint der Chef der SOS-Station. Bruno frisst | |
nicht, er droht zu dehydrieren und wird mit Wasser gefüttert. Gegen seine | |
Geschwüre bekommt er Medikamente. „Wir retten nicht die Natur. Wir helfen | |
dem einzelnen Tier“, Eligius Everaarts gibt sich keinen Illusionen hin. | |
Aber vielleicht könne man das Leben der Tiere besser verstehen lernen und | |
für dieses Verständnis dann etwa in Schulen werben. | |
Sind die Tiere gesund, werden sie ausgewildert. Für Bruno ist die Prognose | |
gar nicht so schlecht. Für seinen aus Belgien stammenden Artgenossen sieht | |
es übel aus. Er lag zu lange am Strand, seine Muskeln sind übersäuert. | |
Außerdem wurde er von einem Fuchs angefressen. Er wird rund um Uhr durch | |
das Beobachtungsbecken getragen. Der dritte Wal stammt aus den Niederlanden | |
und hat sich nach Monaten medizinischer Versorgung gut erholt. | |
„Möglicherweise können wir ihn zusammen mit Bruno auswildern. Die beiden | |
haben im Becken schon Kontakt aufgenommen“, freut sich Eligius Everaarts. | |
## Giftiges Meer | |
Ursula Siebert ist Leiterin des Instituts für terrestrische und aquatische | |
Wildtierforschung Büsum in der Stiftung der tierärztlichen Hochschule | |
Hannover. Sie forscht seit Jahren an Schweinswalen. Als Pathologin hat sie | |
bislang Totfunde aus Schleswig-Holstein seziert. Heute gibt das Land kein | |
Geld mehr für die Obduktionen. Man seziert, ähnlich wie das für | |
Niedersachsen zuständige Landesamt für Verbraucherschutz und | |
Lebensmittelsicherheit (Laves) in Cuxhaven, „nach Bedarf“. „Wir stellen | |
fest, dass angelandete Schweinswale umfassend belastet sind“, sagt Siebert. | |
„Sie haben Parasiten, sind lungenkrank, ihr Immunsystem ist umfassend | |
geschädigt“. | |
Warum das Immunsystem der Tiere so geschwächt ist, darüber streiten sich | |
die Gelehrten. Tatsache ist, dass Nord-und Ostsee Industriegebiete sind und | |
seit Jahren toxisch belastet. Das Bundesamt für Naturschutz spricht von | |
Tausenden pharmazeutisch-chemischen Einzelsubstanzen im Wasser und Boden | |
der Meere. Was konkret für Gifte im Meeresboden lagern, wie sie miteinander | |
reagieren, weiß niemand. | |
In einer Studie über Gift in der Nordsee schreibt das Senckenberg-Institut | |
aus Wilhelmshaven: „Der in den Sedimenten beobachtete Anstieg der | |
Schwermetalle ist in den vergangenen 120 Jahren auf das Vielfache der | |
natürlichen Gehalte gestiegen, gleichzeitig hat die anthropogene Belastung | |
die entlegensten Gebiete der Nordsee erreicht.“ Essen kann tödlich sein, | |
mit ihrer Nahrung schlucken Schweinswale all die Gifte. | |
## Gift und Lärm | |
Die Vergiftung der Körper kann eine mögliche Ursache für das Leiden der | |
Schweinswale sein. Eine andere ist der ständig wachsende Lärm unter Wasser. | |
Munitionssprengungen zerreißen den Tieren das Gehör oder die Lunge. Das | |
Gehör ist das zentrale Organ der Wale zur Orientierung, zur Kommunikation | |
und zum Orten von Beute. Das vermehrte Bauen von Windparks in | |
Schweinswalgebieten wirkt wie ein Trommelfeuer auf die Tiere. „Nach dem Bau | |
der ersten deutschen Offshorewindanlage Alpha Ventus gab es keine | |
Schweinswale im ehemaligen Walgebiet mehr“, hat Ursula Siebert | |
festgestellt. | |
Zwar fordert das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie einen | |
Schallgrenzwert von 160 Dezibel in 750 Meter Entfernung vom Rammort beim | |
Einbringen der Fundamente eines hochseegestützten Windpropellers, dieser | |
Wert bezieht sich aber nur auf einen Rammschlag. Um die gewaltigen | |
Stahlnägel, auf denen die Windanlagen stehen, sogenannte Monopiles, von bis | |
zu acht Metern Durchmesser in den Meeresboden zu dreschen, braucht es aber | |
Tausende Rammschläge. „Der Grenzwert von 160 Dezibel hilft den Walen nicht. | |
Sie hören kilometerweit“, sagt Ulrich Karlowski, Sprecher der Gesellschaft | |
zur Rettung der Delphine in München. | |
## Der Lärm bleibt | |
Der Grenzwert orientiert sich zudem nicht an den aktuellen technischen | |
Möglichkeiten. Sven Koschinski ist unabhängiger Gutachter und Experte in | |
Sachen Unterwasser-Schallschutz: „Der heute meist benutzte Schallschutz, | |
ein Blasenvorhang um die Rammstelle, kann bei großen Monopiles den | |
Grenzwert von 160 Dezibel nicht einhalten“, sagt Sven Koschinski. Außerdem | |
breite sich der Schall über den Meeresboden unter dem Schallschutz hindurch | |
aus. „Wir müssen über andere Fundamente nachdenken und über andere | |
Rammmethoden“, fordert Koschinski. | |
Die Industrie wehrt sich aber gegen kostspielige Auflagen. Und Gehörschäden | |
als Folge von Unterwasserlärm sind schwer zu beweisen. „Solche | |
Untersuchungen werden in Deutschland an Totfunden gemacht. Die Tiere | |
müssten aber wenige Stunden nach ihrem Tod untersucht werden“, erklärt Sven | |
Koschinski. Pech für den Walschutz: denn angeschwemmte tote Schweinswale | |
sind meist schon im Verwesungsstadium oder werden bis zur möglichen | |
Obduktion in Norddeich, Cuxhaven oder Büsum eingefroren. | |
## Schutz pro forma | |
Zwar stehen Schweinswale schon seit Jahren weltweit unter Schutz – Ascobans | |
wurde 1991 als Abkommen zur Erhaltung der Kleinwale in Nord- und Ostsee | |
unter der Schirmherrschaft der UN beschlossen –, trotzdem darf in | |
ausgewiesenen Walschutzgebieten mit Stellnetzen nach Plattfischen oder | |
Dorsch gefischt werden. Die Wale erkennen die feinen Nylonfäden nicht und | |
verfangen sich in den Netzen. Jährlich ersticken so Tausende Tiere als | |
„Beifang“. | |
In der Ostsee ist der Stellnetzfang Standard. Selbst in von der EU | |
ausgewiesenen Walschutzgebieten stehen bis zu 21 Kilometer lange Todeszäune | |
pro Fischkutter, kritisiert die Gesellschaft zur Rettung der Delphine. | |
Erlaubt wird dieser Fischfang – durch die EU. Dänemark, wo bis 1944 die | |
kommerzielle Treibjagd auf Schweinswale üblich war, verwehrt sich gegen | |
jegliche Einschränkung des Stellnetzfangs. | |
„Alternative Fangmethoden kommen nicht zum Einsatz, weil die Fischbestände | |
überfischt sind. Die Fischer scheuen Investitionen“, meint ein Mitarbeiter | |
des Deutschen Meeresmuseums in Rostock. Um dem Schutz pro forma | |
nachzukommen, werden die Netze in Walschutzgebieten mit Tongebern, | |
sogenannten Pingern, ausgestattet. Die sollen Schweinswale abschrecken. Das | |
tun sie auch. Die Wale flüchten dann in Nicht-Schutzzonen und ersaufen in | |
Stellnetzen ohne Pinger. | |
## Vögel interessieren nicht | |
„Das ist absurd“, erregt sich eine Sprecherin der Gesellschaft zur Rettung | |
der Delphine. Über die 20.000 Seevögel, die jährlich vor Rügen bei der Jagd | |
in den Stellnetzen verrecken, spricht dabei niemand. Noch 2013 wollte der | |
schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck (Grüne) den | |
Stellnetzfang in Schutzzonen verbieten. Hat er aber nicht. Der Beschluss: | |
2014 entscheiden die Fischer „freiwillig“, wann, wo und wie viele | |
Stellnetze sie aufstellen. Die „Schonzeit“ für Wale halbierte Habeck von | |
vier auf zwei Monate. Keiner weiß warum. | |
Es ist nun der dritte Tag, an dem der kleine Schweinswal durch das Becken | |
der SOS-Dolfijn-Station getragen wird. Auf ihn wartet eine unsichere | |
Zukunft. Derweil kommt prompt ein Notruf auf drei Telefonlinien | |
gleichzeitig: „Sorry, wir müssen schon wieder ein Tier bergen“, beendet | |
Eligius Everaarts das Gespräch. Während zwei Mitarbeiterinnen gemeinsam mit | |
einer Tierärztin Bruno einen Schlauch für eine Gastroskopie einführen, | |
machen andere den Wal-Ambulanz-Wagen klar. | |
3 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Thomas Schumacher | |
Thomas Schumacher | |
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