| # taz.de -- Stephan Wackwitz' Buch über Georgien: Glücklich im Kaukasus | |
| > Stephan Wackwitz breitet kulturhistorische Fährten aus und entdeckt in | |
| > Georgien glaubhaft „Die vergessene Mitte der Welt“. | |
| Bild: Übergangsphase oder Rückschlag des ehemaligen Satellitenstaates? | |
| Der Schriftsteller und Goethe-Institut-Kulturbotschafter Stephan Wackwitz | |
| ist weit in der Welt herumgekommen. Dabei hat es ihn immer wieder in die | |
| Randzonen des ehemaligen Ostblocks gezogen, ins polnische Krakau, | |
| slowakische Bratislava und nun in die georgische Hauptstadt Tiflis. So ganz | |
| geheuer scheint ihm diese östliche Präferenz jedoch nicht zu sein. | |
| Mit viel Selbstironie und einer gehörigen Portion Misstrauen beobachtet der | |
| gebürtige Stuttgarter im ersten Kapitel seines neuen Essaybandes „Die | |
| vergessene Mitte der Welt“ die „vollends antimoderne Gestimmtheit“, mit d… | |
| seine Georgien-Begeisterung nach seiner Ankunft im Herbst 2011 | |
| einherzugehen scheint. | |
| Auf halsbrecherischen Stadtspaziergängen durch das architektonisch wild | |
| wuchernde Tiflis und bei Ausflügen zu georgischen Winzern konstatiert | |
| Wackwitz peinliche „Erhart-Kästner-Gefühle“ – der Bibliothekar | |
| verherrlichte im Zweiten Weltkrieg das besetzte Griechenland im Rilkesound | |
| – und vergleicht sich mit dem Slowenien-Reisenden Peter Handke, den | |
| angesichts „andersgelber Nudelnester“ auf dem Markt von Belgrad | |
| Heimatgefühlsschauer überliefen. Sogar von Heidegger fühlt sich der Autor, | |
| der in der Fremde auf seltsam Vertrautes stößt, plötzlich verstanden und | |
| fragt rhetorisch verzweifelt: „Was, zum Teufel, ist das?“ | |
| So subjektiv der Autor sein „kaukasisches Glücklichsein“ einführt, es die… | |
| als Anstoß für weitaus größere, inspirierende Zusammenhänge. Mit | |
| umfassender Belesenheit und Bildung macht Stephan Wackwitz sich ans landes- | |
| und gefühlskundliche Forschen, wodurch er Atmosphären und Architekturen – | |
| beide stehen klar im Zentrum dieses Buches – überhaupt erst lesbar macht | |
| und analytisch erschließt. Wenn ihn etwa der poetisch-absurde | |
| Vergnügungspark Mtatsminda an Fellini-Filme erinnert, lässt sich auch das | |
| Italien der 60er Jahre mit Georgien heute vergleichen: zwei Schwellenländer | |
| „zwischen Mittelalter und Moderne“. | |
| ## Symbolische Architektur in Eriwan | |
| Der Autor, der schon in seinem Reisebuch „Osterweiterung“ durch | |
| postsozialistische Land- und Gesellschaften reiste, setzt seinen Weg fort | |
| in Richtung Asien. In Eriwan fasziniert ihn die symbolische | |
| Stadtarchitektur, mit der der russische Architekt Alexander Tamanjan in den | |
| 1920er Jahren die armenische Hauptstadt als Mittelpunkt der Welt | |
| reinszenierte; in der aserbaidschanischen Ölboomtown Baku die letzten | |
| Zitate des Abend- im Morgenländischen. | |
| Wenn Wackwitz diese Kulturen auf der Grenze von Europa zu Asien | |
| porträtiert, jongliert er – etwa im Armenienkapitel – virtuos mit der | |
| Heartland-Theorie aus der Zeit des „Great Games“ zwischen Russland und | |
| Großbritannien, Betrachtungen zum Völkermord an den Armeniern 1915, aber | |
| auch Fußnoten zu Promis wie Kim Kardashian. Eine Fülle von kunst- und | |
| geschichtswissenschaftlichen, theologischen, soziologischen und einfach nur | |
| kuriosen Fährten wird ausgebreitet – und doch hat man nie das Gefühl, sich | |
| zu verirren. | |
| Übergangsphasen und Schwellensituationen sind Wackwitz’ Steckenpferde. | |
| Orten oder Objekten, in denen der Wandel stillgestellt scheint und das | |
| Nebeneinander von Zeitschichten greifbar wird, gilt seine besondere | |
| Leidenschaft, etwa den „prophetischen Bushaltestellen“, die den ganzen Band | |
| illustrieren: Unter all den futuristischen Betonröhren und -pilzen, | |
| bäuerlichen Holzbänken und sozialistischen Mosaikwänden gleicht kein | |
| Wartehäuschen dem anderen. | |
| ## Kreative Bushaltestellen | |
| In der sonst herrschenden sowjetischen Gleichförmigkeit und Normierung | |
| hatten „Kreativität, Formgeschichtsbewusstsein, utopische Phantasie | |
| ausgerechnet im Bushaltestellenbau ungestört ihr Daseinsrecht verteidigen“ | |
| können, wundert sich Wackwitz: „Die georgischen Bushaltestellen waren | |
| Zukunftsromane und Geschichtsbücher.“ Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – | |
| in Wackwitz’ romantisch-kosmologischer Sicht auf die Welt ist immer alles | |
| schon da. „Die Moderne ist unsere Antike“, auf diesen Slogan der Documenta | |
| 12 greift er denn auch begeistert zurück, wenn ihn eine brutalistische | |
| Tiefgarage ans Löwentor von Mykene erinnert. | |
| So romantisch sensibilisiert der Autor die Welt wahrnimmt, politisch | |
| votiert er klar für Demokratie und Aufklärung. Besonders konkret wird dies | |
| im vorletzten Kapitel, in dem Wackwitz Zeuge des georgischen Machtwechsels | |
| 2012 wird (einer Art bürgerlicher Revolution des Mittelstands), aber auch | |
| von homophoben Gewaltausbrüchen im Mai 2013. | |
| Obwohl es also in der Emanzipation des ehemaligen Satellitenstaates | |
| Rückschläge gibt, schließt Wackwitz optimistisch: „Die georgische | |
| Zivilgesellschaft wird lernen müssen, sich zu organisieren und politisch zu | |
| repräsentieren […] aber sie hat eine Chance, dachte ich, und eine | |
| realistischere als in jeder anderen postsowjetischen Republik.“ Den | |
| Emanzipationsversuch der Ukraine vor Augen, stimmt diese Einschätzung | |
| ziemlich nachdenklich. | |
| Und was ist mit dem rätselhaften Georgien-Glück? Es führt ganz zum Schluss, | |
| über den Umweg einer Stichstraße in Tiflis und den Pariser Stadtteil | |
| Ménilmontant im französischen Kurzfilm „Der rote Ballon“, zurück in die | |
| Nachkriegskindheit des Autors. Verrückt, wie die Erinnerung an eine | |
| Vergangenheit der Zukunftsträume die Gegenwart bestimmen kann. | |
| 13 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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| Helmut Lethen | |
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