# taz.de -- Kunstprojekt: Mädchenhandel aus dem Schtetl | |
> Die Bremer Künstlerin Elianna Renner untersucht die Geschichte des | |
> Zuhälterrings „Zwi Migdal“, der um 1900 Tausende Jüdinnen in die | |
> Prostitution zwang. | |
Bild: Bremen, Bueonos Aires, Mumbai: Bis 1930 wurden Tausende jüdische Frauen … | |
BREMEN taz | Es war eines der größten Gerichtsverfahren Argentiniens, als | |
dem jüdischen Zuhälterring „Zwi Migdal“ 1930 der Prozess gemacht wurde. D… | |
400 Angeklagten hatten seit Mitte des 19. Jahrhunderts Tausende jüdische | |
Frauen verschleppt und als Zwangsprostituierte in die ganze Welt verkauft. | |
Dass dieses Geschäft nach über 60 Jahren zerschlagen werden konnte, ist der | |
Verdienst der Prostituierten Raquel Liberman, die es wagte, Anzeige zu | |
erstatten und gewann. | |
“Solchen Frauen eine Stimme zu geben“, nennt Elianna Renners das Wichtigste | |
an ihrem Projekt „Tracking the Traffic“. Die jüdischstämmige Künstlerin … | |
Absolventin der Bremer Hochschule für Künste und reist den verschleppten | |
Frauen seit 2012 hinterher: Zunächst nach New York und Bueonos Aires, aber | |
auch nach Afrika und Asien, wohin „Zwi Migdal“ Mädchen verkaufen konnte, | |
weil europäische Kolonialisten Bedarf an weißen Prostituierten hatten. | |
Einen Teil ihres gesammelten Materials hat Renner am Samstag beim | |
Kunstprojekt „thisisnotashop“ im Steintor-Viertel vorgestellt. | |
Der Mädchenhandel um 1900 war kein allein jüdisches Phänomen, fand dort | |
allerdings zu einer besonderen Form: Viele verarmte Juden waren vor | |
antisemitischen Pogromen aus Russland geflohen und in Warschau gelandet. | |
Hier bildete sich ein Milieu, in dem sich „Zwi Migdal“ zu einem | |
organisierten Verbechersyndikat entwickeln konnte. Die Armut führte dazu, | |
dass die Masche der „Schtetl-Mafia“ funktionierte: Ein wohlhabender Mann | |
versprach oft minderjährigen Mädchen ein glückliches Leben in der Ferne und | |
heiratete sie. Nach der Abreise begann für die Frauen die Tortur der | |
Zwangsprostitution. Die meisten von ihnen landeten in den Hafenstädten | |
Südamerikas, wo „La Polaca“, die Polin, noch heute Synonym für | |
Prostituierte ist. | |
Auf ihren Reisen sprach Renner mit ZeitzeugInnen und Fachleuten, | |
untersuchte Friedhöfe und studierte jiddische Ganovenlieder. Sie versteht | |
sich dabei nicht als Historikerin, sondern untersucht, wie sich „die | |
historischen Fragmente künstlerisch umsetzen lassen“. Das tut sie in | |
verschiedenen Projekten: In Bremen führt sie mit Studierenden der | |
Hochschule für Künste und der Uni Workshops durch. In Buenos Aires arbeitet | |
sie an einer Videoinstallation. Und sie dokumentiert das Material [1][auf | |
ihrer Website in Text, Bild und Video]. | |
Vor dem Hintergrund, dass Täter und Opfer jüdisch waren, verweist die | |
Quellenlage immer wieder auf Antisemitismus. So sind überlieferte Zahlen | |
unzuverlässig, weil die nationalsozialistische Presse das Thema | |
aufgebauscht hat: Jüdische Verführer, die Mädchen in die Unmoral ziehen, | |
waren immer schon starkes Narrativ des Judenhasses. Andere Quellen wurden | |
gleich ganz zerstört: In Europa während der Shoah, aber auch in Argentinien | |
wurden die Namen der Prostituierten aus Grabsteinen gemeißelt. Renner | |
vermutet dahinter Nachkommen der Begrabenen, die während der | |
Militärdiktatur „belastendes Material“ aus ihrer Biographie löschen | |
wollten. Vor zwanzig Jahren dann ein Anschlag auf das jüdisches | |
Gemeindezentrum von Buenos Aires, bei dem 85 Menschen starben und viele | |
Dokumente über „Zwi Migdal“ verbrannten. | |
Obwohl der Antisemitismus so in alle Aspekte von Renners Projekt drängt, | |
konzentriert sie sich auf die Erinnerung an hoffnungsvollere Episoden: An | |
Frauen wie Raquel Liberman oder an den Bremer Rabbiner Leopold Rosenak, der | |
eine jiddische Zeitung publizieren wollte, um Auswanderinnen vor den | |
Gefahren der Zwangsprostitution zu warnen. Was er zu Lebzeiten nicht mehr | |
schaffte, bringt Renner mit Studierenden gerade zu einer symbolischen | |
Erstausgabe – als nächsten Schritt von „Tracking the Traffic“. Renner | |
stärkt so mit ihrem Projekt die jüdische Perspektive auf eine Geschichte, | |
die nicht verschwiegen werden darf, weil Antisemiten sich ihrer bedienen. | |
## | |
25 Mar 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.trackingthetraffic.org/ | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
## TAGS | |
Menschenhandel | |
Argentinien | |
Zwangsprostitution | |
Prostitution | |
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