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# taz.de -- Menschenhandel auf dem Bremer Marktplatz: Post von der Ware Mensch
> Ein temporäres Kunstprojekt auf dem Marktplatz zeigt historische und
> aktuelle Zwangsprostitution als strukturelles Problem.
Bild: Projektion auf dem Bremer Marktplatz: "Ich war 16 und wusste von nichts."
BREMEN taz | Im Halbdunkel des abendlichen Marktplatzes stehen rund 50
Menschen um einen kleinen Pavillon und blicken schweigend auf eine
Leinwand. Die meisten zählen zur Kunstszene – sind eingeladen. Sonst ist an
diesem Freitagabend nicht mehr viel los: Ein paar späte Einkäufer eilen
noch in Richtung Domsheide, eine Bollerwagentour hat sich grölend auf der
Domtreppe ausgebreitet.
In dem projizierten Film ist eine Hand zu sehen, die kurze Sätze schreibt:
„Er sagte, ich sei die Schönste“, heißt es. Das klingt nach enttäuschter
Romanze – und man muss nicht misstrauisch sein, um hier die Masche eines
Verführers zu vermuten.
Tatsächlich ist es weit schlimmer als das: In diesem Projekt der Künstlerin
Elianna Renner und Studierenden der Hochschule für Künste geht es um
Menschenhändler, die junge Frauen aus der verarmten Provinz in die
Zwangsprostitution locken. Alle Briefe sind echt, doch die historischen
Texte mischen sich mit Berichten von heutigen Zwangsprostituierten. Renners
Langzeitprojekt „Tracking the Traffic“ widmet sich der ästhetischen
Aufarbeitung solcher unfreiwilligen Migrationsbewegungen – ausgehend vom
Schicksal vorwiegend jüdischer Frauen aus Osteuropa, die seit den 1860er
Jahren verschleppt wurden.
Die Schilderungen in den Briefen werden dramatischer: Berichte von Schlägen
und Nahrungsentzug als Strafe fürs Weinen. Spätestens hier wird klar, dass
es nicht um geplatzte Affären geht, sondern um handfestes Unrecht. Und als
die gleiche Projektion der gleichen Briefe plötzlich nach
Polit-Veranstaltung riecht, ziehen sich einige spontane Zuschauer
unauffällig zurück.
Dabei bittet hier niemand um Unterschriften oder Spenden – es gibt nicht
einmal Parolen, die sich mitrufen ließen. Übrigens auch keine Zahlen,
Karten oder andere Versuche, die Dimension des Menschenhandels darzulegen.
Es gibt nur diese kurzen, vergleichsweise harmlosen Sätze: „Er hat meinen
Eltern versprochen, dass er auf mich aufpasst.“
Mit dieser Aktion auf dem Marktplatz startet die Veranstaltungreihe
„Ordnung/Struktur“ des Frauen-Kultur-Labors „Thealit“. Der Projektname …
02. Marktplatz“ lässt sich als Koordinaten-Angabe verstehen: Zeit und Ort
als Ansatz, gesellschaftliche Strukturen nachzuvollziehen. Damals entstand
unter der weltweiten Präsenz von Seeleuten und Kolonial-Soldaten ein Markt
für europäische Mädchen.
Heute ist er endgültig globalisiert und die menschliche Fracht wird auf der
ganzen Welt umgeschlagen. Der Marktplatz ist dabei mehr als ein Symbolort
für den Warentausch. Bremen war historisch tatsächlich eine zentrale
Station für Tausende Mädchen, die aus Osteuropa kommend ihr Glück in der
Neuen Welt machen wollten.
Zwischendurch ist eine Männerstimme aus den Lautsprechern zu hören, die
ruhig und sachlich von den Machenschaften eines Mädchenhändlerrings
berichtet. Es ist ein Vortrag des Bremer Rabbiners Leopold Rosenak, der
Anfang des 20. Jahrhunderts vor den Menschenhändlern und ihren Tricks
warnte. Man könnte es für einen Text von heute halten, wenn da nicht die
altertümliche Sprache wäre – wenn Rosenak etwa von Frauen spricht, die
versuchen, „errötend ihr Antlitz zu wahren“. Der Rabbiner hat sich weit
über Bremen hinaus für die ostjüdischen Emigranten, insbesondere für die
allein reisenden Frauen engagiert.
Zum Schluss lösen sich zehn Gestalten in Brautkleidern aus dem
Zuschauerpulk und bauen sich vor der Leinwand auf. Auf ihren Rücken
erstrahlt die Pointe des halbstündiges Programms: „Die Nachfrage bestimmt
das Angebot.“ So hat schon der Krisen-Ökonom John Maynard Keynes die
klassische Volkswirtschaftslehre auf den Kopf gestellt. Doch während ihn
noch die Frage plagte, wie der Staat notfalls die Konjunktur anzukurbeln
habe, geht es hier um Schuld – und um Freude, wenn der internationale
Menschenhandel wegen ausbleibender Nachfrage zusammenbräche.
1 Mar 2015
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
Menschenhandel
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Kunstprojekt: Mädchenhandel aus dem Schtetl
Die Bremer Künstlerin Elianna Renner untersucht die Geschichte des
Zuhälterrings „Zwi Migdal“, der um 1900 Tausende Jüdinnen in die
Prostitution zwang.
Bedrohte Erinnerung: Ein Anfang vor dem Ende
Der Rosenak-Verein eröffnet im Keller der zerstörten Synagoge seine sehr
sehenswerte Dauerausstellung - die vielleicht schon bald wieder geschlossen
wird.
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