# taz.de -- Vor 20 Jahren erschoss sich Kurt Cobain: Der Sound der Raucherecke | |
> Kurt Cobain war der erste Tote der MTV-Ära. Seine Musik spiegelte die | |
> Unsicherheit frühen 90er, sie legte bei einer ganzen Generation den | |
> Schalter um. | |
Bild: It's better to burn out than to fade away: Kurt Cobain 1991 auf dem Pukke… | |
Vier Akkorde in f-Moll – F5, Bb5, Ab5 und Db5 – und zack, schon ist die | |
Erinnerung da. Denn mit diesen Gitarrenriffs beginnt der Song „Smells Like | |
Teen Spirit“. Die Band, die ihn spielt: Nirvana. Wenn Leute wie ich, Ende | |
der 70er Jahre geboren, diesen Sound hören, kommt alles zurück: das | |
Lebensgefühl der Neunziger mit postideologischer Ratlosigkeit, | |
Flanellhemden, Discman, George Bush senior, Kurt Cobain und Marion aus der | |
Parallelklasse, die Schluss gemacht hat. | |
Vier Akkorde – sie reichen einer ganzen Generation, um den Schalter | |
umzulegen und sich wieder in der Raucherecke auf dem Schulhof zu wähnen. | |
Ein Dutzend Jungs finden sich dort zur großen Pause ein, fast alle picklig | |
und im Stimmbruch, fast alle mittelmäßig in allen Fächern. Die meisten mit | |
langen Haaren, die meisten dem Spirit von Nirvana, der Haltung von Cobain | |
verfallen. | |
Gesehen haben wir die Band zuerst in diesem MTV-Video: da waren drei | |
rockende Musiker in einer runtergerockten Turnhalle, duster, braunstichig, | |
unscharf. Es soll der meistgespielte Clip überhaupt auf dem Musiksender | |
sein. Und im Zentrum Cobain, lange blondierte, zerzauste Haare, leerer, | |
herausfordernder Blick. Er stand da und sang in einem gammligen, stickigen, | |
engen Raum. Drumherum Cheerleader wie ein ironischer Wink, pogende | |
Menschen, übersteuerte Pegel und künstlicher Rauch. | |
Und dann das Ende. | |
„Cobain ist tot.“ Es war am 8. April 1994, als diese Meldung die Runde | |
machte. Ob es stimmte, war zuerst nicht klar. Ein paar Wochen zuvor war | |
Kurt Cobain in Rom bereits mit einer Überdosis Tranquilizer – nicht Heroin | |
– kollabiert. Da stellte sich sein Tod noch als Gerücht heraus. | |
Wie fast jeden Nachmittag saßen wir an jenem Apriltag im Jugendzentrum | |
„Alte Post“ in Oelde, dieser Stadt im Münsterland, in der wir unsere Jugend | |
durchlitten. Mit jedem neuen Freund, der zu uns stieß, nahm die Nachricht | |
mehr Kontur an, bis klar war, Cobain, der mit seiner Band jenen Song und | |
drei epochale Alben aufgenommen hatte, hatte sich – drei Tage zuvor, wie | |
spätere Obduktionsberichte ergaben – mit einer Schrotflinte erschossen. | |
## Gefährliche Musik | |
Zwanzig Jahre ist das jetzt her und mit Cobain ist mehr gegangen als nur | |
ein begabter Songwriter. „Mit Kurt Cobain und Nirvana war Rockmusik zum | |
letzten Mal wirklich shocking“, sagt der britische Pop-Autor Jon Savage. Er | |
interviewte Cobain 1993 für den Observer, er war einer der wenigen | |
Journalisten, mit denen der Sänger zu dieser Zeit überhaupt sprach. „Nach | |
Nirvana gab es für mich nichts Vergleichbares mehr. Sie waren die letzte | |
gefährliche Rockband“, sagt er. | |
Savage ist einer der Chronisten des britischen Punk. Heute ist er 60 Jahre | |
alt und lebt in Anglesey in North Wales. Dort sitzt er während des | |
Skype-Gesprächs in seinem Arbeitszimmer, die Haare grau und abstehend. Als | |
er Cobain damals interviewte, habe der nicht gesund ausgesehen und sei | |
stoned gewesen, berichtet Savage. „Aber er war intelligent, smart, | |
humorvoll, es war Lebensfreude in ihm.“ | |
Ob mit Kurt Cobain auch der Rock'n'Roll starb? „Nein, so würde ich das | |
nicht sagen“, sagt Savage. | |
Dagegen spricht auch der Song „Hey Hey, My My“ von Neil Young, den Cobain | |
damals in seinem Abschiedsbrief zitierte. Im Lied kommt der Satz vor: „Rock | |
and Roll can never die.“ Er ist zum Mantra aller Rockfans geworden. Viele | |
denken zuerst an diesen Spruch bei Neil Youngs Song, obwohl Cobain in | |
seinem Abschiedsbrief eine andere Zeile aus dem Lied hinterließ: „It’s | |
better to burn out than to fade away.“ Man fand diese Notizen neben dem | |
Toten in der Dachkammer seiner Garage in Seattle, in der er sich erschoss. | |
Cobains Tod ist bis heute eine mythisch aufgeladene, riesengroße | |
Projektionsfläche. „Die romantische Faszination für den Tod eines jungen, | |
aufbegehrenden Menschen ist ja eine Konstante in der Kulturgeschichte“, | |
sagt Savage, „da kommt man vom Werther über James Dean ganz schnell zu Ian | |
Curtis von Joy Division und zu Cobain.“ Und Janis Joplin, Jimi Hendrix | |
nicht vergessen. | |
## Generation X | |
Aber Cobain stellte mehr dar als verzweifelte Jugend und Rebellion. Er und | |
seine Musik spiegeln – und das war anders als früher – das Ungefähre der | |
Zeit, in der er lebte und in der folglich auch wir lebten. Diese war | |
geprägt von der Unsicherheit, die das Ende des Kalten Krieges mit sich | |
brachte, von MTV, von der viel beschworenen Generation X, die in seltsam | |
neoliberale Verhältnisse hineingeboren wurde, was orientierungslos machte. | |
Nirvana, die 1987 gegründete Band, spielte den passenden Sound dazu. Grunge | |
heißt die Melange aus Indie, Punk, Songwriter und Noiserock. Weil Musik | |
durch MTV visuell war, spielte der Style zudem eine Riesenrolle. Auch er | |
drang bis zu uns in die westfälische Provinz, genauer bis in die | |
Raucherecke auf dem Schulhof, wo wir die Zigaretten selbst drehten und | |
löchrige Cordhosen zu Flanellhemden trugen wie unser Idol. | |
Nirvana – mit dem Namen beziehen sich Cobain und Co auf das buddhistische | |
Nirwana – wurde für uns lebenswichtig. Den ganzen Wahnsinn des Erwachens | |
und Erwachsens hätte ich ohne diese Band nur halb so gut ausgehalten. Wenn | |
Cobain sang und wimmerte und schrie, verstand ich das. „I miss the comfort | |
in being sad“, krächzte er, und da wollte ich ihm ganz sicher nicht | |
widersprechen. Schon gar nicht, seit Marion mit dem Typen mit den Locken, | |
der zwei Jahrgangsstufen über mir war, ging. | |
Cobain sei vieles gewesen, sagt Christoph Jacke, Musiktheoretiker von der | |
Universität Paderborn, am Telefon. „Cobain als Figur, der vereinte so viel | |
Ambivalentes – man könnte auch sagen, der verkörperte ein merkwürdiges | |
Dazwischen. Da war das punkige Dagegen, da war die Fluchtbewegung und | |
Rückzug, da war etwas Späthippieskes. Und da waren auch Reste von | |
Rockstartum und gleichzeitig etwas sehr Weiches?“ Jacke hält nun kurz inne, | |
sagt: „Sie merken, es beginnt zu sprudeln“, und fährt fort, „irgendwie | |
hatte er dann auch noch etwas von einer Couchpotato und einem Hängertypen.“ | |
Jacke leitet den Studiengang Populäre Musik und Medien an der Fakultät für | |
Kulturwissenschaften der Uni Paderborn. Das sei toll, diese Diskurse und | |
Mythen über Cobain und das „Seattle-Modell“, das von dort auf Europa | |
überschwappte, das sage, meint er, ja auch was über unseren | |
Gesellschaftszustand. Das „Seattle-Modell“: Im Pop bedeutete es, sich gegen | |
den Starkult um den meist weißen, männlichen, gut aussehenden Frontmann | |
einer Rockband zu stellen. Und gesellschaftlich war es ein Stinkefinger | |
gegen den alles beherrschenden Konsumismus, Karrierismus, Konformismus. | |
## Gefährliches Leben | |
Cobain war der Posterboy dieses Modells und dieser Art der verzweifelten | |
Musik, die zwar Grunge hieß, aber doch eigentlich Punk war. „Kurt Cobain | |
hatte viel von einem Punk“, erklärt deshalb auch Savage, der englische | |
Punk-Chronist, „er hat sich für Gay und Women’s Rights stark gemacht. Und | |
er stand klar auf der Seite der Underdogs und Outsider. Er mochte Leute, | |
die irgendwie anders waren.“ Und er hatte ein Gespür für das, was die Leute | |
umtrieb. Jedes Wort, das Cobain über die „Teenage Angst“ sang, die | |
Orientierungslosigkeit und Leere, war auch so gemeint. „Here we are now, | |
entertain us.“ | |
Kurt Cobain gilt vielen als der „erste MTV-Tote“. Spätestens seit diesem | |
„ersten MTV-Toten“ muss jede erfolgreiche Band ihre mediale Inszenierung | |
mitdenken und zudem mitdenken, welche künstlerischen Strategien der | |
Verweigerung es gibt, wenn die Verweigerung selbst zum Produkt wird. | |
Szenenwechsel: Im Hinterzimmer des Indie-Clubs Vera in Groningen sitzt | |
Peter Weening. Seit 1976 organisiert er in dem kleinen, unscheinbaren Haus | |
in der Groninger Innenstadt Konzerte. U2, The Birthday Party, DAF – solche | |
Bands spielten da, lange bevor sie berühmt waren. Auch Nirvana trat 1989 | |
dort auf. Vor 80 Leuten. Zwei Jahre später spielten sie vor 10.000. „Es war | |
gefühlt das erste Mal, dass eine Band von ’uns‘ so durch die Decke ging“, | |
erinnert sich Weening. An den Wänden im Vera, auch in dem verrauchten, mit | |
CDs, Fanzines und Equipment zugestellten Büro, hängen bis heute kopierte, | |
bekritzelte Konzertplakate von Bands wie Dinosaur Jr., Screaming Trees oder | |
Sonic Youth, die für Nirvana ein wichtiger Einfluss waren. | |
Auch Cobains Frau Courtney Love, Mutter der gemeinsamen Tochter Francis | |
Bean, hat 1991 mit ihrer Band Hole im Vera gespielt. „Als sie gerade hier | |
war, hatte ich plötzlich Kurt am Telefon“, erzählt Weening. „Er wollte ihr | |
einen Heiratsantrag machen, den ich überbringen sollte. Er selbst hatte | |
sich nicht getraut. Das sei so typisch Kurt, sagte damals ein Freund, der | |
mit ihm zuvor auf Tour war.“ Weening hat Love dann doch ans Telefon geholt; | |
wie dieses Gespräch ausging, ist nicht ganz klar. | |
## Who cares? | |
Über die Gründe zu spekulieren, warum Kurt Cobain sich erschoss, findet | |
Christoph Jacke, der Musiktheoretiker der Uni Paderborn, müßig: „Wir wissen | |
nichts über das private Leben eines Stars. Cobain war Vater, | |
Drogenabhängiger, Nirvana-Chef – er hat viele Rollen innegehabt wie wir | |
alle. Welche Gemengelage zu seinem Tod geführt hat: Who cares?“ | |
Nach Nirvana jedenfalls kam erst mal nur Britpop – mit Oasis auch die | |
Rückkehr zur Rockstar-Gestik – und die Love Parade. | |
Auf dem Schulhof aber blieb Cobains Tod lange ein Thema. Hinter den | |
„Nirvana“-Schriftzug auf unseren Bundeswehr-Rucksäcken pinselten wir mit | |
dem Edding ein „R. I. P., Kurt“. Die Karte für ein Nirvana-Konzert in Köl… | |
die ich noch hatte, verlor ihre Gültigkeit. Das Konzert sollte am 14. März | |
1994 stattfinden. Cobains Kollaps in Rom kam dazwischen, der Auftritt wurde | |
verschoben und sollte nachgeholt werden. Ein paar Wochen später hatte sich | |
das erledigt. | |
5 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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