# taz.de -- Musiktourismus in Seatlle: Kurt und Jimi verzweifelt gesucht! | |
> Die Stadt ist eine der beliebtesten Urlaubsmetropolen der USA – wegen der | |
> Nähe zum Meer, den Vulkangipfeln und der Musik. | |
Bild: Die Skyline von Seattle mit space needle und Mount Rainier. | |
Ende der achtziger Jahre wurde in der liberalen Metropole im Nordwesten der | |
USA der Grunge geboren, eine Musik abseits des Mainstreams, laut und | |
dröhnend, eine Mischung aus Hardcore Punk und Metal. Ausdruck einer | |
zornigen Jugend, die sich von ihren Eltern der 68er Generation verschaukelt | |
fühlte. Nirvana-Frontmann Kurt Cobain galt als Galionsfigur dieser | |
desillusionierten Grunge-Szene. Bis dahin war Seattle alles andere als eine | |
Musikmetropole, eher ein kulturelles Mauerblümchen im Schatten von Boeing, | |
Microsoft und Starbucks, die hier ihre Produktionswerke oder | |
Unternehmenssitze haben. | |
Unsere Reise beginnt in der 900 East Pine Street. Hier steht der | |
berühmteste Sohn der Stadt: Jimi Hendrix. Eine Bronzestatue zeigt den | |
Revolutionär an der E-Gitarre in verzückter, klischeehafter Rockpose. Das | |
kleine Denkmal soll an einen der größten Rockstars erinnern. Hendrix hatte | |
nicht einmal einen Schulabschluss, aber seine Balladen gelten als lyrische | |
Offenbarung. | |
Seine sterblichen Überreste liegen im Vorort Renton. Geboren und | |
aufgewachsen ist Hendrix in einer Hinterhofbaracke von Seattle. Auf dem | |
Greenwood Cemetery steht das Hendrix Memorial. Die letzte Ruhestätte | |
entpuppt sich als hässliches Monstrum aus Marmor. „Viel zu wuchtig“, | |
kommentiert Carla de Santis, die auf unsrer Tour dabei ist, scharf. Die | |
blonde Fünfzigjährige berät Künstlerinnen und Unternehmen in PR-Fragen. | |
Weiter geht es mit der Subseattle Tour. „Seattle ist die kreative Metropole | |
der USA“, sagt Lucy Wilma. Mit ihrem Tigerhemd, knallrot geschminkten | |
Lippen, Baskenmütze und Sonnenbrille gibt sie die burschikose | |
Stadtführerin. Sie zeigt den Besuchern, wo berühmte Musiker in Seattle ein- | |
und ausgingen. „Ray Charles spielte in vielen Clubs der Stadt.“ Sein erstes | |
Album hat der begnadete Soulsänger im „Black Alps Club“ aufgenommen. Heute | |
fehlt hier jeder Hinweis auf die glorreiche Vergangenheit. | |
Bis Mitte des letzten Jahrhunderts herrschte in der Musikergewerkschaft | |
strikte Rassentrennung. Das führte dazu, dass die Schwarzen nur in ihren | |
Clubs spielten. Dass sich die Musikergewerkschaften nach Rassen trennten, | |
war „ungeheuerlich, förderte aber auch ein enorm kreatives Potenzial“, sagt | |
Lucy. | |
Die Subseattle Tour geht weiter. Mit dabei sind solch markante Stationen | |
wie das Edgewater Hotel an Pier 67, wo die Beatles 1964 durch das Fenster | |
von Zimmer 272 im Puget Sound angelten, das ehemalige Musikgeschäft, in dem | |
Jimi Hendrix Ende der sechziger Jahre seine erste E-Gitarre kaufte. Dann | |
geht es zum eigentlichen Höhepunkt einer jeden Tour: Washington Boulevard | |
Ost 171, direkt am Vieretta Park. Hier wohnt Seattles Upperclass. Eine | |
Villa extravaganter als die andere. Dazwischen eine kleine Grünanlage, die | |
auf einem kleinen Hügel liegt, von dem aus sich ein wundervoller Blick über | |
den Lake Washington bietet. Aber deshalb sind wir nicht hergekommen. Hinter | |
großen Bäumen liegt das ehemalige Anwesen Kurt Cobains. Eine Holzvilla, wie | |
sie nur Stephen King hätte ersinnen können: dunkel, verlassen und mit | |
Fenstern, die wie tote Augenhöhlen aussehen.Während des Sommers stünden | |
manchmal Gruppen von 10 bis 15 Leuten vor dem verwaisten Haus von Kurt | |
Cobain und seiner Witwe Courtney Love, erzählt uns Lucy. Jetzt ist es | |
eingezäunt und Privatbesitz. Touristen und Fans schreiben Sprüche an den | |
Zaun oder auf die davorstehenden Holzbänke. Die Latten sind von | |
Mitteilungen und Liebeserklärungen übersät: „Du hast uns im Stich gelassen! | |
Kurt, du hast unser Leben verändert!“ Ein Gästebuch aus Holz! | |
Am nächsten Tag geht es mit dem Taxi ins Rathaus. Seit der Demokrat Greg | |
Nichols zum Bürgermeister gewählt wurde, gehört das Musikleben zum | |
unverzichtbaren Bestandteil des städtischen Marketings. Denn Grunge, | |
Hendrix und Co ziehen Touristen aus aller Welt magisch an. Währenddessen | |
hört der Taxifahrer Country Music. Ob er Grunge kennt? - Grunge? Hey Leute, | |
das ist doch diese depressive Kiffermusik! | |
Im 19. Stock eines Hochhausturms wartet James Keblas auf uns. Der | |
dynamische Endzwanziger ist zuständig für Musikförderung. Keblas ist | |
Direktor des Seattle Film and Music Office. „Mein Job ist es, Seattle zur | |
Musikhauptstadt der Welt zu machen“, verkündet er etwas großmäulig gleich | |
zu Beginn des Gesprächs. | |
Trotz der Wirtschaftskrise, die auch Seattle, Boeing und Starbucks erreicht | |
hat, präsentiert der Direktor stolz seine Zahlen in der Art eines | |
Wirtschaftsprüfers: Musik gehöre zum 13. größten Industriezweig. 1,2 | |
Milliarden Dollar setze man jährlich mit Musik um. 9.000 Arbeitsplätze | |
seien durch die Musikindustrie geschaffen worden. | |
Hinter diesen Zahlen verbergen sich Dienstleistungen aller Art: vom | |
CD-Verkäufer bis zum Taxichauffeur, vom Fanartikelhersteller bis hin zum | |
Museumskurator reicht die Palette der Musikschaffenden, die vom Image der | |
Musikmetropole profitieren. Erst an der Spitze dieser | |
Dienstleistungspyramide finden sich die Künstler wieder; ein-, zweihundert | |
mögen es in Seattle und im benachbarten Portland sein, die den Furor aus | |
alten Grunge-Tagen aufgreifen und in ein neues urbanes Lebensgefühl für die | |
iPod-Generation verwandeln. | |
Dazu gehört auch ein futuristischer kolossaler Gebäudekomplex: das | |
Experience Music Project, entworfen von Stararchitekt Frank O. Gehry. Das | |
Museum mit seiner fensterlosen, blau und rot schimmernden Fassade wirkt wie | |
ein Raumschiff, das sich aus einem anderen Sonnensystem hierher verirrt | |
hat. Finanziert von Microsoft Gründer Paul Allen, wird hier die Geschichte | |
der populären Musik erzählt. „Wir sind überhaupt kein traditionelles | |
Museum“, erklärt Jacob McMurray, „man geht hier nicht rein, um Texte zu | |
lesen oder sich Exponate anzuschauen, die an den Wänden hängen. Wir bieten | |
interaktives Material!“ | |
Der 37-Jährige mit Hipster-Hut und Hornbrille arbeitet als Museumskurator. | |
Alles ist hier multimedial. Aus allen Ecken tönen Geräusche, Musik- und | |
Videoclips. Es gibt es eine Menge Kuriositäten und Sammlerstücke zu | |
bestaunen, darunter Gitarren von Jimi Hendrix, die berühmte Fender | |
Stratocaster von Kurt Cobain und andere Devotionalien aus der | |
Rockvergangenheit Seattles. Das im Jahr 2000 fertiggestellte Museum wird | |
vor allem von Touristen besucht. Und die wollen wissen, warum so viele | |
bekannte Musiker gerade aus Seattle kamen. „In Seattle regnet es ziemlich | |
viel“, lautet McMurrays Theorie, „da hat man schon mal Langeweile, spielt | |
zum Beispiel Gitarre, trinkt viel. Daraus kann eine Menge Kreativität | |
entstehen!“ | |
Doch der Grunge darbt im Museum mumifiziert vor sich hin. In Capitol Hill, | |
den Clubs Downtown werden Rap, HipHop und Techno gespielt. Vom Grunge | |
spricht niemand mehr. Nicht einmal Cobains Asche ist mehr da, wo sie | |
hingehört. Courtney Love hatte die sterblichen Überreste ihres Mannes zu | |
Hause in ihrer Villa aufbewahrt. In einer rosafarbenen Plüschtasche, | |
versteckt in einem Kleiderschrank. Ein Dieb hat sie vor zwei Jahren neben | |
Schmuck und Designerkleidung gestohlen. Grunge is dead. | |
1 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Sven Ahnert | |
Michael Marek | |
## TAGS | |
Reiseland USA | |
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