# taz.de -- Debatte Geheimnisverrat: Ohne Judas keine Erlösung | |
> Der Verräter ist kein strahlender Held. Aber er kann der entscheidende | |
> Impulsgeber für gewaltige und großartige Veränderungen sein. | |
Bild: Die Pointe zum Schluss. | |
Die Deutschen sind ein Volk von Verrätern. Sie haben dem Führer die Juden | |
und alle, die ihm sonst nicht passten, verraten, sie haben den Führer an | |
seine Gegner und das nachfolgende politische System verraten, und aus der | |
Zeit der DDR wissen wir von mehr als 600.000 staatlich zertifizierten | |
Verrätern, den Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Von der | |
Bundesrepublik und ihren Spitzeln wissen wir viel zu wenig, aber wir | |
wissen, dass die älteste Partei dieses Landes eine Verräterpartei ist, denn | |
wer hat uns verraten – Sozialdemokraten! Ostern ist also ein sehr deutsches | |
Fest, denn schließlich gäbe es das nicht ohne den größten Verrat aller | |
Zeiten. | |
Der Jünger Judas verrät Jesus an die Römer und an die jüdischen | |
Schriftgelehrten, der Heiland wird ans Kreuz genagelt, weil er die | |
Mächtigen herausgefordert hat, politisch oder religiös – da streiten sich | |
die Schriftgelehrten von heute. Jesus jedenfalls steht nach ein paar Tagen | |
von den Toten wieder auf, das Christentum ist geboren. Die Kirche macht aus | |
Judas den Teufel in Menschengestalt, er überdauert als Buhmann und als | |
Grund für Gewalt gegen Juden die Jahrhunderte. Sein Name wird im Dritten | |
Reich zum Synonym für alle Juden. Dem Krieg gegen „den Judas“ opfern die | |
Deutschen alles: die Kinder der anderen ebenso wie die eigenen, Würde, | |
Menschlichkeit, das Leben – es ließe sich fast von einer gewissen Obsession | |
sprechen. | |
Vielleicht ist es diese Besessenheit vom Verrat, die dieses Land und sein | |
Parlament mit dem größten Verräter der Jetztzeit beschäftigt hält: Edward | |
Snowden, Offenbarer vieler Geheimnisse seines ehemaligen Arbeitgebers, des | |
US-Geheimdienstes NSA. Soll der Mann herkommen und vor dem | |
Untersuchungsausschuss des Bundestages aussagen? Soll er sogar hier bleiben | |
dürfen? Dahinter die Frage: Ist der Mann ein Verräter oder ein Held? | |
Und ist das ein Gegensatz? | |
Wir lernen: ja. Verrat, das ist Missbrauch von Vertrauen, zerstörerisch im | |
engsten Umfeld – zwischen Freunden, Verwandten, Liebenden. Und | |
zerstörerisch für komplexe Gebilde wie heutige Gesellschaften. Denn diese | |
sind so arbeitsteilig, verwinkelt und unüberschaubar, dass die Menschen | |
einander zwangsläufig vertrauen müssen. Der Soziologe Georg Simmel hat das | |
vor über hundert Jahren, zu Zeiten deutscher Kaiser, beschrieben, als er | |
das Phänomen des Geheimnisses untersuchte. Er scheidet moderne | |
Gesellschaften von anderen durch den Grad des erforderlichen Vertrauens: | |
„Bei reicherem Kulturleben steht das Leben auf tausend Voraussetzungen, die | |
der Einzelne nicht bis zu ihrem Grunde verfolgen und verifizieren kann, | |
sondern die er auf Treu und Glauben hinnehmen muss. In viel weiterem | |
Umfang, als man sich klarzumachen pflegt, ruht unsere moderne Existenz von | |
der Wirtschaft, die immer mehr Kreditwirtschaft wird, bis zum | |
Wissenschaftsbetrieb, in dem die Mehrheit der Forscher unzählige, ihnen | |
nicht nachprüfbare Resultate anderer verwenden muss, auf dem Glauben an die | |
Ehrlichkeit des andern.“ Vertrauen zu missbrauchen wäre demnach ein die | |
Existenz bedrohendes Vergehen. Die achte Todsünde. | |
Judas hat einen Verrat erster Ordnung begangen, er hat Jesus ausgeliefert | |
und seine Mitjünger – also seine engsten Freunde und Gefährten – betrogen. | |
Warum, dazu sagen verschiedene Stellen und Auslegungen der Bibel reichlich | |
Unterschiedliches. Da heißt es, der Satan sei in ihn gefahren, er habe sich | |
für 30 Silberstücke von den religiösen Führern der Juden kaufen lassen oder | |
er habe zu den Zeloten gehört, einer Guerillatruppe, welche die Römer aus | |
dem Land haben wollte. In dieser Interpretation war Judas enttäuscht, weil | |
der Heiland nicht den Aufstand gegen die Besatzer proben wollte, sondern | |
verkündete, sein Reich sei nicht von dieser Welt. Als die Christen später | |
expandierten, machten die Kirchenväter das Motiv der Habgier und das der | |
Besessenheit besonders stark, um die Konkurrenz, das Judentum, möglichst | |
schlecht aussehen zu lassen. | |
Allein, egal was Interpretation und Propaganda sagen, Jesus wusste, er | |
würde verraten werden, ihm war auch klar von wem. Beim letzten gemeinsamen | |
Mahl mit seinen Jüngern fordert er Judas regelrecht auf: „Was du tust, das | |
tue bald!“ Schließlich musste Gottes Plan erfüllt werden und der sah den | |
Tod Jesu vor. | |
Ist das noch Verrat? | |
Ohne Judas kein Christentum. Erst durch die böse Tat war Gottes Plan | |
möglich, durch das Opfer seines Sohnes die Menschheit zu erlösen. Dieser | |
Plan forderte zwei Leben, nicht nur eines, Judas erhängte sich nach seiner | |
Tat. | |
Ist das Heldentum? | |
Verdammung oder Verehrung des Verräters ist eine Frage der Macht. Und der | |
Zeit. Aus Sicht des DDR-Regimes waren nicht die 600.000 Inoffiziellen | |
Mitarbeiter die Verräter, sondern potenziell alle anderen. Und es gibt und | |
gab Gläubige, die Judas als Befreier Jesu sehen, als jemanden, der nur den | |
göttlichen Willen erfüllte – nur hatten sie der Hetze der Kirchen wenig | |
entgegenzusetzen. | |
Die USA könnten Edward Snowden umbringen, so manch ein Politiker hat das | |
öffentlich erwogen. Andere Verräter wie Chelsea Manning sitzen im Gefängnis | |
und zwar so lange, dass es dem Tod recht nahe kommt. Ihnen wird | |
vorgeworfen, sie hätten nicht nur ihr Umfeld verraten, sondern gleich eine | |
ganze Gesellschaft, die USA, den Westen. Was Snowden mit Judas verbindet, | |
ist die Verteufelung durch die Mächtigen. Und die Sympathien jener, die die | |
Autorität dieser Mächtigen infrage stellen. Und beider Handlungen, mögen | |
sie auch für sich genommen negativ bewertet werden, führen letztlich zu | |
etwas Gutem. | |
Selbst Edward Snowdens mächtigster Gegner, US-Präsident Barack Obama, | |
glaubt nun, der Geheimdienst NSA müsse reformiert werden. Wie Judas ist | |
Snowden Motor einer notwendigen Veränderung, ohne den Verräter gäbe es | |
keine Weiterentwicklung. Das müssen selbst jene anerkennen, welche die | |
Verräter aufs Ärgste verfolgen. | |
Aber man mag den Verrat lieben oder zumindest dessen Ergebnis einiges | |
abgewinnen können, den Verräter lieben nur wenige. Seine Taten bedeuten | |
immer potenzielles Chaos, gesellschaftliche Auflösung. Der Verräter ist ein | |
Revolutionär. Er bedroht die bestehende Ordnung, und das gefällt niemandem, | |
der es sich in dieser Ordnung bequem eingerichtet hat. Deshalb darf der | |
Verräter niemals ein Held werden, an dem sich andere ein Beispiel nehmen. | |
Davor hätten die Mächtigen Angst, und viele von uns wohl auch. Wäre das | |
anders, hinge in den Kirchen kein Kreuz. Sondern ein Galgenstrick. | |
20 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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