Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Festivalpremiere „Städtebewohner“: Wo die Dunkelheit Raum find…
> Ins Jugendgefängnis von Mexiko-Stadt führt ein neuer Film des Berliner
> Dokumentaristen Thomas Heise: „Städtebewohner“.
Bild: Vergitterte Aussicht, prächtiges Schwarzweiß: Filmstill aus „Städteb…
Eine Frauenstimme trägt aus dem Off ein Gedicht von Bertolt Brecht aus dem
Jahr 1921 vor, „An M.“. Das lyrische Ich wartet auf jemanden, der nicht
kommt, Regen fällt, es ist Nacht. Das Ich verwechselt das Geräusch des
Regens mit Schritten, es öffnet die Tür, „und es kamen Bettler und Huren,
Gelichter / und allerlei Volk“.
Flankiert wird das Gedicht von Bildern aus Mexiko-Stadt, von einem
Strommast und von Schnellstraßen, vom Verkehr und von Menschen, die am
Straßenrand warten. Gefilmt ist dies in einem prächtigen, an den Film Noir
erinnernden Schwarz-Weiß. Man ahnt schon in diesem Vorspiel zu
„Städtebewohner“, dem neuen Film des Berliner Dokumentaristen Thomas Heise,
dass die Dunkelheit hier ihren Raum findet.
„Städtebewohner“ erlebte am Wochenende in Nyon beim Filmfestival Visions du
Réel seine Premiere und wird hoffentlich bald auch in Deutschland zu sehen
sein. Die Geste des Türöffnens kennzeichnet die Arbeit von Thomas Heise.
In seinen Filmen lässt er immer wieder Dinge in den Bereich unserer
Wahrnehmung hineintreten, die sonst abgespalten bleiben, seien es die
rechten Jugendlichen, die er in „Stau – Jetzt geht’s los“ filmte (1992),
oder die Arbeitsabläufe in einem Krematorium, denen er sich in „Gegenwart“
(2012) zuwandte und die mit der eigenen Sterblichkeit konfrontieren. Im
jüngsten Film sind es jugendliche Straftäter, die in einem Jugendgefängnis
in Mexiko-Stadt einsitzen.
## Räume wie Raubtierkäfige
Heise und der Kameramann Robert Nickolaus filmen Mauern, Zäune und
Stacheldraht, vergitterte Fenster von außen und von innen, Räume, die etwas
von Raubtierkäfigen haben, aber auch freundliche Wärter, die einem jungen
Mann, der entlassen wird, viel Glück wünschen. Oder sie filmen eine Wiese,
auf der sich am Besuchstag die Häftlinge und ihre Angehörigen zum Picknick
treffen, als hätte Manet sie zum Déjeuner eingeladen.
Zwei, die sich an diesem Besuchstag begegnen, sind Samuel und dessen
Freundin Marlen. Kaum volljährig sind sie, seit vier Jahren ein Paar, sie
haben ein Kind, und die junge Frau träumt davon, Sprachen und Informatik zu
studieren. Er sagt: „Dann musst du aber erst mal Abitur machen“, und die
Kamera geht nah heran an die Hand Marlens, wie sie halb zärtlich, halb
nervös auf Samuels Hand klopft. Hinterher, in einem Close-up, erzählt der
junge Mann, er sitze wegen Totschlags ein. „Aber ich hab das nicht
begangen.“
## Abgeschnittene Glieder
Ein anderer erklärt, wie das Geschäft mit den Entführungen funktioniert:
„Wenn sie nicht bezahlen wollen, schneidet man dem Entführten einen Finger
ab oder ein Ohr und schickt es den Angehörigen.“ Keine Spur von Reue zeigt
sich in seinem Gesicht. Man wünscht sich in solchen Augenblicken manchmal,
dass Heise jene klare Haltung an den Tag legte, mit der Werner Herzog in
seinem Dokumentarfilm „Into the Abyss“ (2011) einem jungen Raubmörder
entgegentritt (Herzog sagt dem jungen Mann ins Gesicht, dass er ihn zwar
filme, aber nicht sympathisch finde).
Doch der Wunsch nach dieser Klarheit lässt übersehen, was Heise stattdessen
leistet: Er bringt sein Publikum in eine Position, in der es seinen Drang
zu urteilen infrage stellen muss. Wer ist man denn, dass man wüsste, wie
Reue sich zeigt? Und: Muss man partout die Position des Richters einnehmen,
wenn man einen Dokumentarfilm sieht, in dem jugendliche Straftäter
vorkommen? Es ist gerade die Qualität, dass sich Heise die Autorität des
Richters nicht zu eigen macht und sie dem Zuschauer verwehrt. Ein Jammer,
dass dieser Film nicht schon auf der Berlinale lief.
30 Apr 2014
## AUTOREN
Cristina Nord
## TAGS
Dokumentarfilm
Film
Dokumentarfilm
Schwerpunkt Rechter Terror
## ARTIKEL ZUM THEMA
Werner-Herzog-Film mit Nicole Kidman: Zärtlichkeiten im Gegenlicht
Wie ein Kalenderblatt: „Königin der Wüste“ ist dem Leben von Gertrude Bel…
einer frühen Historikerin des Nahen Ostens, gewidmet.
Dokumentarfilme in Duisburg: Von Brüllaffen und Plüschkaninchen
Bei der diesjährigen Duisburger Filmwoche stand der Nachwuchs im
Mittelpunkt, es gab erstaunlich viele Hochschulfilme.
Filmemacher über Rechtsextremismus: "Sonst fliegt der Laden auseinander"
Über Nazis zu reden, hat wenig Sinn, wenn man die Gesellschaft als Ganzes
aus dem Blick verliert. Ein Gespräch mit dem Berliner Filmemacher Thomas
Heise.
Rechtsextremismus im deutschen Film: Die Neonazis nicht im Blick
Blinder Fleck in der Filmgeschichte: Warum sich das deutsche Kino lieber
mit Hitler und Baader als mit dem Phänomen des aktuellen Rechtsextremismus
beschäftigt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.