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# taz.de -- Eine Vertreibung: Das Menschenrecht auf Wohnen
> Eine an Multipler Sklerose erkrankte Mieterin muss ihre marode Wohnung
> räumen. Wohnungseigentümerin ist eine Richterin für Menschenrechte.
Beruflich gehört Elisabeth Steiner zu den obersten Hütern der
Menschenrechte in Europa: Als Richterin am Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg verurteilt sie Staaten, die gegen die
Grundrechte verstoßen. Zu diesen Grundrechten gehört zum Beispiel das Recht
auf Achtung der Wohnung.
Privat gehört Elisabeth Steiner zu den Immobilieneigentümern in Berlin. Ihr
gehört ein Drittel eines Hauses in der Turmstraße in Moabit. Seit dem Jahr
2007 wohnt dort im ersten Stock die an Multipler Sklerose erkrankte Barbara
Fussan-Kühne mit ihrem Lebensgefährten Stefen Oldenburg. Am Mittwoch kommt
die Gerichtsvollzieherin zur Zwangsräumung.
Beim Abschluss des Mietvertrages haben Fussan-Kühne und Oldenburg nicht gut
genug aufgepasst: Die damaligen Hauseigentümer bauten einen formalen Fehler
in den Vertrag ein. Der führt dazu, dass der in dem Vertrag festgelegte
besondere Kündigungsschutz nicht gilt. Davon profitiert Richterin Steiner:
Bei einer Neuvermietung lässt sich derzeit in Moabit ein deutlich höherer
Mietpreis erzielen als im Jahr 2007.
Zumindest, wenn vorher noch saniert wird. Im Zimmer ganz hinten links senkt
sich der Marmorboden bedenklich. In der Ecke hängt er fünf Zentimeter
unterhalb der Fußleiste. „Wenn Sie da drauftreten, landen Sie vier Meter
tiefer in der Remise“, sagt Stefen Oldenburg. Der Hausschwamm habe den
ganzen Boden zerfressen. Nicht nur hier, im Schlafzimmer, auch in der Küche
und in zwei angrenzenden Fluren. Deshalb schlafen Oldenburg und
Fussan-Kühne in einem Durchgangszimmer. Das Essen bereitet er auf zwei
Kochplatten zu, den Abwasch macht er im Bad.
Weil der hintere Teil der elf Zimmer vom Hausschwamm befallen ist, halten
sich die beiden viel im vorderen Teil auf, der zur Turmstraße hinaus geht.
Dort sollte eigentlich ein Büro entstehen. Auf schwarzem Steinboden harren
Schreibtische, schwarze Ledersofas und leere Metallregale ihrer Bestimmung.
Die kahlen Wände leuchten weiß. Gemütlich ist anders.
## Die Wohnung, ein Fluch
Kaum vorstellbar, dass Füssan-Kühne und Oldenburg hier seit Jahren leben.
Sie kommen nicht mehr los von diesen Räumen. Obwohl sie ihnen inzwischen
zum Fluch geworden sind.
Im Jahr 2007 wurde bei Barbara Fussan-Kühne, die eine Catering-Firma
betrieb, gerade die Diagnose auf Multiple Sklerose gestellt. Sie musste
damit rechnen, dass die unheilbare Nervenkrankheit sie früher oder später
in den Rollstuhl bringt. Weil sie weiter berufstätig sein wollte, tat sie
sich mit Stefen Oldenburg zusammen. Er, ein energischer Typ mit vielen
Ideen, gründete gerade eine Computer-Firma. Sie würde für gesundes Essen
für seine Mitarbeiter sorgen und von hier aus einen Partyservice aufbauen.
Sie suchten geeignete Räume. Die 330 Quadratmeter im ersten Stock in der
Turmstraße schienen ihnen ein Glücksfall. Mit einigen Umbauten könnte man
vorne das Büro einrichten, hinten die Küche, daran angrenzend Schlaf- und
Wohnzimmer.
In einem Gewerbe-Mietvertrag wurde festgelegt: Die Mieter müssen zehn Jahre
lang nur eine reduzierte Miete zahlen. Im Gegenzug investieren sie selbst
in die Räume und zahlen unter anderem für ein neues Bad, neue Fußböden,
neue Einbauküche und eine Bodenheizung für die Terrasse. Die Kündigung
durch den Vermieter sei „nur bei Mietrückständen“ erlaubt, so steht es in
dem Dokument. Außerdem erhalten die Mieter dann den Wert ihrer
Investitionen ersetzt.
Fussan-Kühne und Oldenburg unterschreiben. Und beginnen mit der
Renovierung. Die Räume nach vorne bekommen zum Beispiel repräsentative
Steinfußböden. Die Investitionen haben einen Wert von 215.000 Euro, stellt
ein Gutachten später fest.
Nach einem Jahr wird Hausschwamm im hinteren Teil des Altbau-Gebäudes
festgestellt. Um den holzfressenden Pilz rauszubekommen, muss der
Hauseigentümer Decken und Wände aufreißen. Fussan-Kühne und Oldenburg
stoppen mit ihren Renovierungsarbeiten und warten, dass der Vermieter die
Mauern saniert.
Doch die Sanierung bleibt zunächst aus. Die beiden berichten, sie hätten
bei der Hausverwaltung, mit der sie anfangs gut zurechtzukommen glaubten,
immer wieder nachgefragt. „Irgendwann waren die für uns schlichtweg
überhaupt nicht mehr zu sprechen“, erzählt Fussan-Kühne. Erst als 2009 zwei
Decken einstürzten, seien die Bauarbeiter angerückt.
Oldenburg sagt, ihm seien die Investoren für seine Firma abgesprungen.
„Weil es nicht voran ging.“ Er habe immer sein eigenes Geld verdient,
erzählt er. Jetzt, mit 58 Jahren, lebe er erstmals von Hartz IV.
## Die Kündigung, ein Schock
Angesichts der vielen Mängel mindern sie 2010 die Miete um die Hälfte,
berichtet Fussan-Kühne. Im Juni 2011 wird der Mietvertrag gekündigt. Die
beiden sind geschockt. Genau das wollten sie schließlich durch die Klausel
im Mietvertrag ausschließen.
Weil die beiden auf den Vertrag pochen, ziehen die Vermieter vor Gericht
und klagen auf Räumung. Mit einer verblüffenden Argumentation: Der Vertrag
enthalte einen formalen Fehler.
In dem Dokument steht, dass die „Erbengemeinschaft Voss/Panier*“ der
Vermieter sei. Petra Voss und Joachim Panier haben das Haus gemeinsam
geerbt. Formal gesehen kann eine Erbengemeinschaft allerdings keine
Verträge abschließen. Richtigerweise hätte im Vertrag also stehen müssen:
„Petra Voss und Joachim Panier“.
Die Vermieter meinen: Weil sie sich selbst in dem Vertrag falsch bezeichnet
haben, sei die erforderliche Form für einen schriftlichen Vertrag nicht
eingehalten. Und damit gelte auch kein besonderer Kündigungsschutz.
Jeder, der nicht Jura studiert hat, greift sich bei so einer Argumentation
an den Kopf. Doch bei Jura geht es nicht nur um Gerechtigkeit, sondern auch
um Formalia. Das Landgericht gibt den Vermietern Recht: Damit die
Kündigungsschutzklausel wirkt, wäre es unter anderem notwendig gewesen „die
Vertragsparteien genau zu bezeichnen“. Auch das Kamergericht urteilt:
„Diesen Anforderungen genügt die bei Vertragsschluss gefertigte
Vertragsurkunde nicht.“ Der Bundesgerichtshof lehnt die Revision ab.
„Wir sind immer mehr verzweifelt. Das glaubt einem ja keiner, das so etwas
passieren kann“, sagt Fussan-Kühne. Sie rollt sich auf einem Bürostuhl zur
Sitzecke in einem der vorderen Räume. Alles an ihr wirkt schmal. Die Hände,
die Beine, der braune Zopf. 15 bis 20 Jahren werde sie noch problemlos
laufen können, hatte ihre Ärztin bei der Diagnose gesagt. Schon jetzt muss
sie sich durch die Flure hangeln, weil ihr die Schritte schwerfallen. Oder
sie nimmt den Rollstuhl.
Man weiß bei Multipler Sklerose nicht, wie der Verlauf der Krankheit sein
wird. Oldenburg und sie sind überzeugt, dass auch der Stress ihre
gesundheitliche Lage verschlechtert hat. „Aufregung ist Gift“, sagt
Oldenburg.
## Die Richterin profitiert
Richterin Steiner hat mit der Sache erst zu tun, seit sie im Dezember 2011
ein Drittel des Hauses kauft. Da läuft der Rechtsstreit längst, die Klage
durch den Vermieter ist bereits eingereicht. Auch nach dem Verkauf bleiben
die früheren Eigentümer prozessführungsbefugt. Steiner erläutert in ihrer
Stellungnahme an die taz: „Ich halte also fest: Ich war und bin an dem
gesamten Rechtsstreit nicht direkt beteiligt und habe auf dessen Ergebnis
auch keinerlei Einfluss!“
Das ist korrekt. Die Richterin profitiert allerdings von den Urteilen. Und
sie könnte sich natürlich entscheiden, gemeinsam mit den anderen
Eigentümern einen neuen Mietvertrag für Fussan-Kühne und Oldenburg
auszustellen. Zu den alten Konditionen, mit der alten Klausel zum Schutz
der Investitionen durch die Mieter und mit korrekter Bezeichnung des
Vermieters. Aber sie verweist auf die angebliche Unzuverlässigkeit und
Vertragsbrüchigkeit der Mieter: Die Miete sei von diesen zu unrecht nicht
gezahlt worden, der Zugang zu den Räumen für die Instandsetzungsarbeiten
sei verweigert worden, die Nutzung der Gewerberäume zum Wohnen sei
rechtswidrig gewesen. „Würden Sie auf der Basis derartiger Erfahrungen
einen neuen Gewerbemietvertrag abschließen?“, fragt Steiner. Die Vermieter
haben diese Vorwürfe auch schon im Gerichtsverfahren um die Räumung
vorgebracht; sie wurden allerdings dort nicht vom Gericht geprüft, weil es
darauf für die Richter angesichts des Formfehlers beim Mietvertrag nicht
ankam.
Barbara Fussan-Kühne verlässt das Haus inzwischen immer seltener. Nicht nur
wegen der Krankheit sind sie vor allem zuhause. Fussan-Kühne und Oldenburg
haben geradezu Angst, die Wohnung zu verlassen. „Wenn die Wohnung unbetreut
ist, könnte jemand reinkommen und zum Beispiel das Wasser aufdrehen. Dann
könnte der ganze Schaden im hinteren Haus uns angehängt werden“, erklärt
Oldenburg.
## Der Seelenfrieden, dahin
Freunde kommen eher selten vorbei. Zusammen essen kann man nicht, weil es
keine funktionierende Küche gibt. Wenn doch jemand vorbeischaue, kreisten
die Unterhaltungen oft um die Wohnung, erzählt Oldenburg. „Bei uns dreht
sich einfach alles um diesen Mist.“ Er krault den Kopf des Hundes, der sich
zu seinen Füßen lang ausgestreckt hat. „Wenn einer unseren Seelenfrieden
rettet, dann ist das Cute.“
Es ist kostbare Lebenszeit, die verrinnt, während Fussan-Kühne und
Oldenburg sich vor Gericht verkämpfen. Aber sie können nicht anders. „Ich
will nicht mit einer Zahnbürste auf die Straße gesetzt werden, ohne
irgendeinen Wertersatz für die Investitionen“, sagt Fussan-Kühne. Was sie
im Leben erreicht habe, habe sie selbst aufgebaut. „Wenn das dann jemand
wegnimmt, ist man auch mit ein paar Mängeln bei der Gesundheit so trotzig
zu sagen: Das will ich nicht.“
Möglicherweise ist ihr Kampf bald vorbei. Für Fussan-Kühne und Oldenburg
wäre es ein bitteres Ende. Am Mittwoch ist der Termin für die Zwangsräumung
angesetzt. Oldenburg und Fussan-Kühne wollen auch danach noch weiterklagen.
Zur Not bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
*Namen der ursprünglichen Vermieter geändert
1 Jun 2014
## AUTOREN
Antje Lang-Lendorff
Sebastian Heiser
## TAGS
Mieterschutz
Berlin
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