# taz.de -- Schlagloch Boko Haram: Politik frisst Ideal | |
> Noch 1999 hofften viele Nigerianer auf die Scharia im Kampf gegen | |
> Korruption. Der Terror von Boko Haram zeigt nun, dass dieses Projekt | |
> gescheitert ist. | |
Bild: Schock für die Welt: die Entführung von 200 Schulmädchen durch Boko Ha… | |
Die Entführung der mehr als 200 Mädchen im Nordosten Nigerias hat die Welt | |
schockiert. Für Kenner des Landes bestätigt sie, dass die „islamische“ | |
Revolution in einem Land mit einer riesigen islamischen Gemeinde | |
gescheitert ist. Bleibt zu hoffen, dass mit ihr auch die Korruption | |
untergeht. | |
Im November 1999 gingen Zehntausende Nigerianer aus dem Norden auf die | |
Straße und feierten die Ankündigung des damaligen Gouverneurs Ahmed Sani | |
Yerima, dass er als erster nigerianischer Staatsmann im Bundesstaat Zamfara | |
die Scharia einführen würde. Innerhalb von drei Jahren wurden dann zwei | |
Bauersfrauen wegen Ehebruch zum Tode durch Steinigung verurteilt und später | |
von einem islamischen Gericht freigesprochen (der internationale Aufschrei | |
war massiv). | |
Warum kümmert sich ein Staat um das Privatleben zweier Analphabetinnen, | |
anstatt sich der käuflichen Gouverneure anzunehmen? Die Begeisterung über | |
die Einführung der Scharia verlieh doch vor allem der Forderung Ausdruck, | |
dass endlich gegen die Korruption vorgegangen würde. | |
In der intellektuellen islamischen Tradition steht die Scharia für das | |
Ideal eines göttlichen Gesetzes, auf Arabisch heißt sie wörtlich: „Der Weg | |
zur Wasserquelle“. Sterbliche können dem Ideal nie zur Gänze gerecht | |
werden. Wenn eine Gesellschaft die Scharia implementiert, dann bekennt sie | |
sich also zunächst zu einem Ideal. Wenn sie versucht, dieses Ideal in der | |
Wirklichkeit zu verankern, kann sie das nur unter Rückgriff auf die | |
islamische Rechtswissenschaft, genannt „Fiqh“, beziehungsweise deren | |
Rechtsgelehrten. | |
## „Ideale“ und „politische“ Scharia | |
Als die Nigerianer nach Zamfara strömten, waren hinter den Kulissen bereits | |
viele Verfechter des politischen Islam tätig. Geprägt von Philosophen wie | |
Sayyid Abul Ala Maududi (gest. 1979), einem gewichtigen islamischen | |
Gelehrten des indischen Subkontinents, genauso wie von Sayyid Qutb (gest. | |
1966), zwischen 1950 und 1960 Kopf der Muslimbrüder, interessierte beide | |
weniger der wortgetreue Nachvollzug der islamischen Gesetzestraditionen als | |
vielmehr, das islamische Gesetz als Zeichen der Opposition gegen den Westen | |
zu verkaufen. | |
Es gilt also zu unterscheiden zwischen einer „idealen Scharia“ und einer | |
„politischen Scharia“. Erstere mahnt den kleinen Mann an, die Korruption zu | |
beenden, insbesondere unter den Regierungsleuten. Außerdem will sie den | |
Wohlfahrtsstaat, damit den Armen geholfen werde. Sie bemüht sich, bei den | |
Autoritäten eine Art göttliche Angst vor Machtmissbrauch zu schüren, und | |
verlangt die faire Verteilung von Almosen. | |
Regelmäßig werden Geschichten vom Propheten und seinen Begleitern | |
beschworen, die für Fairness und moralische Integrität einstanden und | |
dafür, dass alle Menschen sich der Macht des gerechten und urteilenden | |
Gottes beugen müssten. Das Ideal der göttlichen Gerechtigkeit im klassisch | |
theologischen Sinn wird in diesem Verständnis nahezu austauschbar mit dem | |
islamischen Gesetz. Das islamische Gesetz seinerseits ist nahezu | |
austauschbar mit der natürlichen Ordnung, also der Evolution vom Tier zum | |
Menschen. Die „ideale Scharia“ ist also ein Zeichensatz, mit dessen Hilfe | |
ein Set des richtigen und gerechten Lebens gesetzt werden kann. Das Gesetz | |
ist also das Vehikel, mit dessen Hilfe sich diese Vorstellungen politisch | |
manifestieren lassen. | |
## Zu schnelle Einführung | |
„Politische Scharia“ nun ist der Begriff, der die Demonstrationen nach 1999 | |
erklären soll. Viele Nigerianer haben in der Zeit von 1999 bis 2010 | |
verstanden, dass das ganze islamische Projekt unter dem politischen Projekt | |
subsumiert worden ist – und das mal mehr mal weniger bedauert. Angesichts | |
der Terrors durch Boko Haram ist für viele das islamische Projekt zu einer | |
Katastrophe geworden. Die Differenz zwischen dem Ideal und seiner | |
unvermeidlichen politischen rechtlichen Umsetzung unterwirft das Ideal den | |
gleichen sozialpolitischen Dynamiken, die die islamische Revolution | |
allererst ausgelöst haben. Gleichzeitig führt es dazu, dass alles, was dem | |
Ideal nicht gerecht wird, als „politisch“ abqualifiziert wird. | |
Natürlich hat dieses Begehren nach der idealen Scharia auch | |
indoktrinierende und theologische Elemente. Auf einer tiefergehenden Ebene | |
jedoch handelt es sich vor allem um eine Überlebensstrategie. Wie gesagt, | |
die Implementierung der Scharia verlangt die Implementierung des | |
islamischen Rechts. | |
Im heutigen Norden Nigerias zeigt sich eine große Spannung zwischen dem | |
klassischen und mittelalterlichen Islam und der Gegenwart. In anderen | |
Worten: Die Leute, sich einig darüber sind, dass sie sich einen islamischen | |
Staat wünschen, werden etwas sehr anderes bekommen, sobald das islamische | |
Recht installiert worden ist. | |
Während meiner Recherchen bin ich vielen ganz normalen Bürgern begegnet, | |
von Aktivistinnen für Frauenrechte bis zu Muslimen des traditionalen | |
Sufi-Ordens, die jeweils bedauerten, dass die Einführung der Scharia so | |
rasend schnell vor sich gegangen war. | |
Boko Haram ist das schwerwiegendste Indiz für das Scheitern des | |
Scharia-Experiments. Boko Haram – was grob übersetzt bedeutet: „Westliche | |
Erziehung ist Sünde“– fand, dass das Experiment eines islamischen Staates | |
scheiterte, weil man bei der Islamisierung nicht weit genug gegangen wäre. | |
Eine häufig von islamischen Gruppen vorgetragene Einschätzung. | |
## Konkurrenz mit Islamisten | |
Das Scheitern der islamischen Revolution in Nigeria wirft die Frage nach | |
den Möglichkeiten des politischen Islam in der gegenwärtigen Welt insgesamt | |
auf. Seit Beginn der Arabellion in Tunesien Ende 2010 haben verschiedene | |
Staaten, in denen es muslimische Mehrheiten gibt, mit den häufig lange | |
unterdrückten islamistischen Bewegungen um die Führerschaft im Land | |
konkurriert. | |
Inzwischen ist eine reiche Literatur zum Phänomen der Arabellion | |
entstanden, doch nur wenige Analysten ziehen eine Parallele zwischen der | |
Arabellion und den Ereignissen in Nordnigeria. Dabei erlaubt ein Vergleich | |
so viele neue Einsichten. | |
15 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Sarah Eltantawi | |
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