| # taz.de -- Zur Geschichte der Jugendbewegung: Wandervögel im braunen Hemd | |
| > Christian Niemeyers Studie zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung | |
| > belegt: Fast alle Führungsmitglieder waren in der NSDAP. | |
| Bild: Diese Jugendbewegung hat das 20. Jahrhundert überraschend gut überstand… | |
| Die Gedenkjahre 2013 und 2014 gehören schon deshalb zusammen, weil wir aus | |
| dem zeitlichen Abstand von einhundert Jahren immer besser verstehen, warum | |
| mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 die „Welt von gestern“ (Stefan | |
| Zweig) ihr blutiges Ende nehmen musste. | |
| Weil aber Christopher Clarks Buch über die angeblich nicht mehr haltbare | |
| These von der deutschen Alleinschuld an diesem Krieg hierzulande so dankbar | |
| aufgenommen wurde, sollten die kriegstreibenden gesellschaftlichen und | |
| kulturellen Dynamiken im deutschen Kaiserreich nicht in Vergessenheit | |
| geraten. | |
| 1913, im Oktober, fanden sich wichtige Gruppen der 1897 entstandenen | |
| Jugendbewegung zu einem großen Fest, einer Art Woodstock-Festival der | |
| Kaiserzeit, auf dem Hohen Meißner zusammen, um ihre Jugend und ein neues, | |
| vages Deutschland zu beschwören. | |
| Zu ihnen gehört – sehr wesentlich – die in Deutschland entstandene | |
| Jugendbewegung, die nicht nur für die Jugendkultur des 20. Jahrhunderts, | |
| sondern auch für die internationale Reformpädagogik zu einem Reservoir an | |
| Ideen, Lebensstilen und – auch – politischen Haltungen wurde. | |
| ## Hochbetagte Veteranen auf der Burg | |
| Diese Jugendbewegung – als „Wandervogel“ aus Schülerwanderungen an einem | |
| Gymnasium in Berlin-Steglitz entstanden – hat das 20. Jahrhundert | |
| überraschend gut überstanden: Im vergangenen Jahr feierten hochbetagte | |
| Veteranen auf Burg Ludwigstein, wo sich das Archiv der deutschen | |
| Jugendbewegung befindet, bewegende Jubiläen; Neuzeithistorikerinnen wie | |
| Barbara Stambolis und Jürgen Reulecke dokumentieren in Fachbeiträgen und | |
| Sammelbänden die politische und kulturelle Tiefenwirkung dieser Bewegung. | |
| Dafür, dass diese historische Erinnerung nicht in unkritische Verklärung | |
| umschlägt, hat jetzt ein Außenseiter der Zunft gesorgt. Kürzlich | |
| publizierte der Nietzscheforscher und Dresdner Erziehungswissenschaftler | |
| Christian Niemeyer „Die dunklen Seiten der Jugendbewegung“, eine Studie, | |
| die eine weitgehende Kontinuität vom – so der Untertitel – „Wandervogel … | |
| Hitlerjugend“ belegen will. | |
| Nun ist der einschlägigen Forschung schon seit Langem bewusst, dass vor | |
| allem der deutsch-völkische Teil der Jugendbewegung in jenem breiten Strom | |
| antidemokratischer Kräfte, die sich schließlich in der Koalition des | |
| NS-Staates zusammenfanden, eine wesentliche Rolle spielten. | |
| ## Verdrängung und Verleugnung | |
| Mehr noch: Schon vor Jahren hatte der Historiker Michael Wildt in seiner | |
| Studie „Generation des Unbedingten“ nachgewiesen, wie sehr sich das | |
| mörderische Personal des Reichsicherheitshauptamtes aus der völkischen | |
| Jugendbewegung rekrutierte. Christian Niemeyer freilich versucht darüber | |
| hinaus, diese Einzelstudien zu einem Gesamtpanorama zu entfalten, das „der | |
| Jugendbewegung“ insgesamt eine wesentliche Mitschuld an den deutschen | |
| Menschheitsverbrechen zuschreibt. | |
| Sodann weist er – sorgfältig quellengestützt – nach, in welch | |
| überraschendem Ausmaß die meist männlichen ehemals Jugendbewegten unter | |
| Verdrängung und Verleugnung ihrer Rolle im Nationalsozialismus die | |
| politische Kultur der frühen Bundesrepublik Deutschland geprägt haben. | |
| Dabei scheut Niemeyer die Provokation nicht: „So gesehen“, heißt es in | |
| einem Kapitel über die Slawenfeindlichkeit der Jugendbewegung und damit | |
| über die siedelnde Artamanensekte Heinrich Himmlers, „schließt sich der | |
| Kreis: Eine Wanderung, die 1897 mit der Böhmerwaldfahrt der Steglitzer | |
| vergleichsweise harmlos begann und nach 1918 anti-slawisch und | |
| irredentistisch aufgeladen wurde, endete mit dem deutschen Überfall auf | |
| Polen vom 01. September 1939.“ | |
| ## Eine gezielte Lüge | |
| Tatsächlich kann Niemeyer zeigen, dass ein wesentlicher Teil der deutschen | |
| bündischen Jugendbewegung von Anfang an antisemitisch, antislawisch, | |
| zivilisations-, urbanitäts- und vor allem intellektuellenfeindlich gewesen | |
| ist. In der Sache neu an Niemeyers Forschungen ist die Präzision, mit der | |
| er diese Haltungen auch schon bei den Wortführern und Taktgebern der | |
| Jugendbewegung, jungen erwachsenen Männern, Pädagogen und Kulturkritikern | |
| nachweist. | |
| Erstaunlich viele von ihnen wurden später Mitglieder der NSDAP, dienten auf | |
| ihre Weise dem Nazi-Regime und stellten nach dem Krieg als Pädagogen und | |
| Professoren, Publizisten und Politiker einen nicht geringen Teil der | |
| kulturellen „Elite“ der Bonner Republik. | |
| Die traditionelle Historiographie der Jugendbewegung war demnach bislang | |
| zumeist nichts anderes als eine bewusste und gezielte Lüge. In mühseliger | |
| Quellensuche ist Niemeyer der Nachweis gelungen, dass die dreibändige | |
| Dokumentation, die Werner Kindt in den 1960er und 1970er Jahren | |
| herausgegeben und alle spätere Forschung zur Jugendbewegung bestimmt hat, | |
| die NSDAP-Mitgliedschaft wesentlicher Akteure schlicht und ergreifend durch | |
| Auslassungen aus der Geschichte verschwinden ließ. | |
| Im Epilog seiner Untersuchung dokumentiert Niemeyer die Namen von 66 | |
| Personen, die Kindt dargestellt hat: unter diesen waren lediglich 6 (!) | |
| nicht in der NSDAP, alle anderen waren Parteimitglieder, was Kindt, selbst | |
| kein ehemaliges NSDAP-Mitglied – strategisch unterschlagen hat. | |
| ## Umstrittenes Thema | |
| Freilich: Mit dem Nachweis dieser skandalösen Geschichtsklitterung ist das | |
| letzte Wort über die deutsche Jugendbewegung und ihre kulturelle Bedeutung | |
| nicht gesprochen. Indem Niemeyer den Anschein erweckt, die Jugendbewegung | |
| sei mit ihrem völkischen Flügel identisch, übergeht er den kulturhistorisch | |
| noch immer erstaunlichen Umstand, dass die 1913 auf dem Hohen Meißner | |
| gefeierten Lebens- und Umgangsformen, das Bekenntnis zu einem Leben in | |
| eigener Verantwortung weit über das völkische Lager hinaus Anklang gefunden | |
| haben: in der jüdischen, der sozialistischen, einer – zahlenmäßig | |
| allerdings eher geringen – anarchistischen sowie nicht zuletzt der | |
| Arbeiterjugendbewegung. | |
| Ob also die Kultur der Jugendbewegung auf die unbezweifelbar völkischen | |
| Wurzeln ihrer frühen Protagonisten zurückgeführt werden kann, bleibt | |
| weiterhin ein umstrittenes Thema. | |
| 19 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
| ## TAGS | |
| Wandervogel | |
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| Leipzig | |
| sexueller Missbrauch | |
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