# taz.de -- Aussteiger in Kalifornien: Anarchie bei 45 Grad | |
> Für die Bewohner von Slab City ist dies der letzte freie Ort in den USA. | |
> Aussteiger, Absteiger und Ausgestoßene richten sich hier häuslich ein. | |
Bild: Eine typische Wohnanlage in Slab City. | |
SLAB CITY taz | Vier Stunden bin ich von Los Angeles Richtung Südosten | |
gefahren, die letzte davon neben einem nach toten Fischen stinkenden | |
Salzsee. Die Temperatur im Auto beträgt 42 Grad. Die Klimaanlage surrt auf | |
Hochtouren. Auf einer Schotterstraße geht es die letzten Kilometer nach | |
Slab City - zu einem Campingplatz mitten in der Ödnis nahe der | |
mexikanischen Grenze. Mein Ziel: Robi Hunters Heim. Das besteht aus drei | |
Wohnmobilen und einem wohnzimmergroßen Bretterverschlag. | |
Bevor Robi Besucher begrüßt, muss sie ihre kläffenden Hunde in den aus | |
Fenstergittern und Holzplanken gezimmerten Zwinger scheuchen. Robi ist 56 | |
Jahre alt. Ihre blonden Haare hat sie unter einem breitkrempigen schwarzen | |
Strohhut zusammengebunden. Sie trägt ausgeleierte graue Jogginghosen und | |
ein weites T-Shirt. Robi winkt mir aufmunternd zu. "Steig ruhig aus! Die | |
Hunde kommen da nicht raus!" Ich öffne die Autotür. Staubiger Wind, heiß | |
wie Luft aus einem aufgeheizten Backofen, nimmt mir den Atem. | |
Früher nutzte das US-Militär die Gegend als Bombenübungsplatz. Mitte der | |
60er Jahre ließen sich die ersten Camper auf dem verlassenen Stützpunkt | |
nieder und nannten ihre improvisierte Siedlung Slab City - nach den vom | |
Militär zurückgelassenen Betonplatten - concrete slabs. Für sie ist es der | |
letzte freie Ort in Amerika. | |
## Niemand fragt nach Papieren | |
Robi hat ihren Stellplatz mit Autoreifen und bunten Flaschen markiert. Hier | |
gibt es weder Platzordnung, Strom, Wasser, Kanalisation noch Müllabfuhr. | |
Dafür kümmert sich auch niemand um Miete oder Bauvorschriften. Gelebt wird | |
nach der Regel "Du kannst machen, was du willst, solange du deinen Nachbarn | |
nicht auf die Nerven gehst". Man kann sich anders als in den meisten | |
US-Bundesstaaten jederzeit unter freiem Himmel betrinken, rauchen was man | |
will, auch nackt und ohne Helm Fahrrad fahren. Niemand fragt nach | |
Kreditwürdigkeit, Ausweis, Einwanderungspapieren, Führerschein oder | |
Führungszeugnis. Doch überleben kann hier nur, wer sich an extreme | |
Naturgewalten anpasst, exzentrische Nachbarn toleriert und sich | |
selbstständig ohne Annehmlichkeiten des Konsumalltags versorgen kann. | |
Robi winkt mich in den Bretterverschlag im Schatten eines knorrigen Baums. | |
Sie nennt ihn "Great Room". Mit Partner Marty hat sie ihn aus | |
Telefonmasten, Autotüren, rostigem Wellblech, Sperrholzplatten, | |
Fenstergittern und Plastikplanen gebaut. In der Mitte steht ein Tisch aus | |
hüfthohen Holzkabelrollen, drum herum verschlissene Autositze, ein | |
durchgesessenes Sofa und ein breites Bett mit Moskitonetz. "Niemand hier | |
schläft im Sommer im Wohnwagen. | |
Die speichern die Hitze", erklärt Robi. Sie zeigt auf einen Schlauch über | |
dem Bett. Er führt von einem Wassertank neben dem Verschlag zum | |
Plastikspülbecken am anderen Ende des Raums. "Unser Spülwasser läuft in | |
einen Eimer. Von dort kommt es zum Kompost aus menschlichem Dünger." | |
Menschlicher Dünger? Na klar - Robi und Marty haben ein Plumpsklo. Was sie | |
dort sammeln, mischen sie mit Blütenresten, Laub und Schmutzwasser und | |
gießen damit die wenigen Büsche auf ihrem Stellplatz. | |
## Schwierige Lebenswege | |
Durch den "Great Room" zieht eine leichte Brise. Robi füllt zwei Becher mit | |
Wasser, setzt sich auf einen der Autositze und erzählt. Bis vor zwei Jahren | |
lebte die ehemalige Angestellte einer Fluggesellschaft mit ihrem Sohn in | |
einer Zweizimmerwohnung in den Hügeln von Silicon Valley. Nach einer | |
Verletzung am Arbeitsplatz klagte sie erfolglos auf Sozialhilfe wegen | |
Arbeitsunfähigkeit. Immobilien, in die sie investiert hatte, wurden | |
zwangsversteigert. | |
Es folgten niederschmetternde persönliche Verluste: Ein Jahr nachdem der | |
Vater starb, nahm sich ihr Bruder das Leben. Als kurz darauf ihr Sohn | |
auszog, überkam Robi ein starkes Bedürfnis nach Unabhängigkeit. "Ich hatte | |
das Gefühl, keinerlei Kontrolle über mein Leben zu haben. Miete, Strom, | |
Wasser, Bankgebühren - ich war allen ausgeliefert und dachte: Ich hab die | |
Schnauze voll!" Sie verscherbelte ihr Hab und Gut bis auf das Nötigste, | |
kaufte einen gebrauchten Wohnwagen, zog los und blieb in Slab City hängen. | |
Im Winter steigt die Zahl der Bewohner der Siedlung auf über zweitausend. | |
Die meisten sind sogenannte Snowbirds - Rentner, die in gut ausgerüsteten | |
Campingwagen aus kalten Regionen nach Kalifornien strömen. Bevor im Mai die | |
Tagestemperaturen auf 45 Grad steigen, ziehen diese Zugvögel weiter. Zurück | |
bleiben Aussteiger, die mietfrei ohne Stress und Regeln der | |
Konsumgesellschaft leben wollen, und Ausgestoßene, die nicht wissen, wo sie | |
sonst unterkommen könnten. Robi erzählt, dass Neuankömmlinge schnell ihr | |
eigenes Lager aufschlagen müssen. "Die Menschen hier erwarten von dir, dass | |
du dich um dich selbst kümmerst. Es ist nicht so, dass wir nicht helfen | |
möchten, aber wir haben selbst nur begrenzte Mittel." | |
Und was passiert, wenn in Slab City jemand krank wird? Robi weicht aus. | |
Wenn jemand zum Arzt muss, finde sich immer ein Weg, das zu organisieren. | |
"Die meisten hier wollen das aber gar nicht und schon gar nicht ins | |
Krankenhaus. Sie fürchten, da nie wieder rauszukommen." | |
Ich breche auf, um den Campingplatz zu erforschen. Im Schritttempo holpere | |
ich über staubige Schotterwege durch die Siedlung: streunende Hunde, | |
ausgetrocknete Dornenbüsche, Trümmerhaufen aus verrosteten Autoteilen, | |
ausrangierten Sesseln und nicht identifizierbarem Sperrmüll. Mehrmals | |
steige ich vor Wohnwagen, bunt bemalten Bussen, Zeltkonstruktionen und | |
Bretterverschlägen aus, mache mich durch Winken und Rufen bemerkbar. | |
Schatten bewegen sich hinter fadenscheinigen Gardinen. Keine Tür geht auf. | |
Ich registriere, dass mein Handy kein Signal empfängt. | |
## Die Künstlerkolonie | |
Im Schutz meines klimatisierten Autos fahre ich weiter, vorbei an einem | |
Wohnwagen ohne Räder mit der Aufschrift "Bar Oasis" und einem | |
Wellblech-Holzverschlag mit dem im Wind quietschenden Schild | |
"Internet-Cafe". An einem Holzbrett im Sand mit der Aufschrift | |
"Klapperschlangenweg" biege ich ab und lande an einem runden Torbogen aus | |
gebogenen Stahlstreben und sich im Wind drehenden Fahrradfelgen. Ich bin | |
bei der Künstlerkolonie von Slab City gelandet: East Jesus. | |
Installationen ragen in den wolkenlosen Himmel: ein fünf Meter hohes Mammut | |
aus zerrissenen Autoreifen, Gerüste aus Holz und Metall, ein halb im Sand | |
versenkter Bus, Autos verziert mit Tierknochen, Puppenköpfen, | |
Lichterketten, Patronenhülsen und Computerzubehör. Autofelgen und | |
Glassplitter reflektieren das Abendlicht. | |
Eine knochige Gestalt mit zerquetschtem Zylinder auf dem Kopf und in | |
zerschlissenen Klamotten kommt auf mich zu: Flip Cassidy, Bildhauer, | |
Fotograf und Musiker. Ich erzähle ihm von meiner Suche nach Utopia. "Ist | |
Slab City so ein Ort?" Flip wiegt nachdenklich den Kopf. Es sei falsch, den | |
angeblich "letzten freien Ort Amerikas" zu romantisieren. Er erzählt von | |
Menschen- und Waffenschmugglern, von Drogenlaboren und Messerstechereien. | |
Andererseits - wo sonst könnte Flip seinen Turm aus Fernsehern bauen, deren | |
Bildschirme er mit konsumkritischen Botschaften zumalt? "Die Installation | |
ist ungeheuer verschraubt und verstärkt. Kunst muss hier draußen den | |
Elementen standhalten bei gnadenlosem Wind mit 60 Stundenkilometern und | |
stärker!" | |
Die untergehende Sonne taucht Skulpturen und Wüste in weiches Orange. "Zeit | |
für einen Drink und Musik", sagt Flip und führt mich zum mit Teppichen | |
ausgelegten Musikraum aus Holz- und Wellblech. Er greift zum Banjo, ein | |
schlaksiger Zweimetermann setzt sich ans Piano. Bewohner und Gäste der | |
Künstlergemeinschaft kommen dazu. Ein Joint wird herumgereicht. Flip singt | |
mit Reibeisenstimme von Unheil, Whiskey, Pistolen und Liebe. "Wir kommen | |
nach East Jesus, um nachzudenken und kreativ zu sein", sagt Pianist Chris. | |
Wie die anderen hat er Bleibe und Job anderswo. "Das unterscheidet uns von | |
den meisten Slabbern auf der anderen Seite. Für die ist das hier | |
Endstation." Flip schaltet sich ins Gespräch ein. Slab City sei zumindest | |
eine Gegengesellschaft. "Kostenloses Wohnen - wo gibts denn so was?" | |
Inzwischen ist es stockdunkel. Skulpturengarten, Flaschenwand und Musikraum | |
verwandeln sich dank Sonnenenergie zu einer Lichtinstallation umgeben von | |
totaler Finsternis, überdacht vom funkelnden Sternenhimmel. Flip lädt mich | |
ein, in East Jesus zu übernachten. Ich fahre erst mal zurück zu Robi und | |
Marty. Die reparieren mit einem Riesenhammer die Anhängerkupplung eines | |
Wohnmobils. Sie wollen damit zu Martys Tochter nach Iowa fahren. Robi freut | |
sich auf kühlere Temperaturen und Abwechslung. | |
Was fehlt ihr am meisten in der Wüste? "Eine kalte Dusche! Und saubere | |
Fingernägel! Und mein Sohn. Dass ich nicht mehr weiß, welche Musik er hört. | |
Es kann hier sehr einsam werden." Der Sohn hat geweint, als er sie das | |
erste Mal besuchte. Inzwischen finde er es cool, wie unabhängig sie | |
existieren kann. "Du solltest einen Vollmond hier erleben!", sagt Robi nach | |
einer längeren Pause. "Es gibt magische Nächte in der Wüste." Ich schaue | |
nach oben und beschließe: Die Einladung, im Wohnzimmer von East Jesus auf | |
der Couch mit freiem Blick zum Sternenhimmel zu übernachten, nehme ich sehr | |
gerne an. | |
28 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Kerstin Zilm | |
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