# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 32: Beeindrucke dein Idol | |
> Mütterchen war gegen die Nazis, findet aber, dass Theater nichts mit | |
> Politik zu tun hat. Weswegen sie Gustaf Gründgens mit reinem Herzen | |
> verehrt. | |
Bild: Gründgens, der Mephistophelische: hier mit Will Quadflieg 1957 in Hambur… | |
Die Berliner liebten Gründgens, hat Mütterchen erzählt. Hab ich | |
aufgeschrieben. Vor allem aber liebte Mütterchen Gründgens. „Der war im | |
Arbeitslager jewesen“, sagt sie. Gemeint ist das „Speziallager Jamlitz“. | |
Der sowjetische Geheimdienst internierte dort nach 1945 relativ willkürlich | |
politisch irgendwie verdächtige Personen, darunter auch einige Prominente. | |
„Geredet hat er nie darüber“, hat Mütterchen gesagt, „aber einmal hatten | |
wir Probe, und plötzlich wurde er furchtbar nervös: ’Hören Sie das?‘, sa… | |
er. – ’Kein‘ Mucks‘, sagte ich, und trotzdem musste ick noch mal durchs | |
janze Theater rennen, bevor wir weiterarbeiten konnten.“ | |
Mit leuchtenden Augen hat Mütterchen immer erzählt, wie sie am Abend des 3. | |
Mai 1946 im Publikum saß, als auf der Bühne des Deutschen Theaters der | |
Vorhang aufging. Es muss ganz am Anfang ihrer Arbeit dort gewesen sein. Die | |
Premiere von Carl Sternheims „Der Snob“, Gustaf Gründgens in der | |
Hauptrolle, das erste Mal nach dem Krieg, nach seiner Verhaftung, nach | |
seiner Freilassung. Der Vorhang hob sich, und da stand er. Allein. Auf der | |
Bühne. Hinter einem Sekretär: Der Staatsschauspieler Gründgens, Görings | |
„Gottbegnadeter“, Hamlet, Mephisto. Applaus brandete auf. „Die Leute | |
klatschten und klatschten“, sagt Mütterchen, „’ne Viertelstunde. | |
Mindestens! Und irgendwann machte Gründgens mit der Hand so ’ne beruhigende | |
Geste, damit das Stück losgehen konnte. Und dann sprach er seinen ersten | |
Satz in der Rolle des Christian Maske: ’Das ist grotesk!’ Und man merkte | |
so, wie fassungslos er selber war, wieder auf dieser Bühne zu stehen und | |
über all das, was passiert war, und er traf die Leute so ins Herz damit, | |
die applaudierten gleich noch mal, doppelt so laut.“ | |
Ich erinnere mich, wie irritiert ich war, als Mütterchen das erzählte. | |
Vielleicht hatte ich den „Mephisto“-Film mit Brandauer in der Hauptrolle | |
schon gesehen. Vielleicht hatte ich sogar das Buch schon gelesen. | |
(„Mephisto“, ihr wisst schon, der Roman von Klaus Mann, dem | |
Nationalautorensohne-Mann, über einen Theater-Karrieristen im Dritten Reich | |
namens Hendrik Höfgen, erschien 1936 in einem Exilverlag in Amsterdam und | |
dann erst wieder 1956 im Osten bei Aufbau. Nach Gründgens’ Tod 1963 | |
verhinderte dessen Lebensgefährte und Adoptivsohn die Veröffentlichung des | |
Romans in Westdeutschland durch mehrere Klagen bis zum Verfassungsgericht, | |
die zur sogenannten „Mephisto-Entscheidung“ führten. 1981 erschien der | |
Roman trotzdem bei Rowohlt, zeitgleich kam der Film ins Kino.) | |
Das Irre an Mütterchen ist, dass sie sich eigentlich nie für Politik | |
interessiert hat. Sie wollte Theater machen, das war ihr das | |
Allerwichtigste. Und sie war gegen die Nazis. Ansonsten vertrat sie die | |
Prämisse, dass ein jeder nach seiner Fasson glücklich werden solle. | |
„Schacköng a songu“, hat sie immer gesagt. Jeder nach seinem Geschmack. | |
Für Mütterchen hatte auch Theater nichts mit Politik zu tun. Dabei war eine | |
ihrer ersten Regieassistenzen am DT bei Bertolt Brecht. Mutter Courage. Die | |
Mutter Courage. Die mit den Kindern. Helene Weigel in der Hauptrolle. | |
Unfassbar. „Der war ein Armleuchter“, hat Mütterchen gesagt und die Hände | |
über dem Bauch verschränkt. Ich schnappe nach Luft: „Omi!“, sage ich, „… | |
kannst du doch so nich sagen!“ – „Und wie ick ditt kann!“, sagt Mütter… | |
„Der war so unjerecht und cholerisch“, sagt sie, „der hat bei der ’Cour… | |
den Requisitor durchs janze Theater gehetzt, weil ihm die Requisiten nich | |
interessant jenuch waren.“ Sie tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. | |
So doll, dass es klopft. Es macht sie immer noch wütend. „Ick meine, ditt | |
war kurz nachm Krieg! Es war schon völlich irre, dass die diesen Planwagen | |
aufjetrieben hatten! Und der macht ein Fass uff …!“ Ich werde nicht mit ihr | |
darüber streiten. Ich hatte Brecht nur in der Schule. Sie hat mit ihm | |
gearbeitet. Mütterchen nimmt einen Schluck Kaffee, setzt die Tasse ab und | |
klappert nachdenklich mit ihrem Gebiss. | |
„Aber einmal“, sagt sie dann, „da hat er selber was vorgespielt. Um zu | |
zeigen, was er meinte mit einer Regieanweisung. Nur ’n paar Sätze. Das war | |
dermaßen brillant, mir blieb die Spucke weg!“ | |
Das erste Mal unter Gründgens gearbeitet hat sie bei Jewgeni Schwarz’ „Der | |
Schatten“, Frühjahr 1947 und dann gleich wieder beim „Marquis von Keith“ | |
von Wedekind. Und bei dieser Inszenierung geschah Mütterchens persönlicher | |
Ritterschlag. Bis fast ganz zum Schluss konnte sie diese Geschichte immer | |
noch bis ins kleinste Detail erzählen: „Ernst Stahl-Nachbaur, der den | |
Konsul Casimir spielte, der war krank“, erzählt Mütterchen. „Und nu sollte | |
aber eine Szene geprobt werden, wo der irgendwie drei entscheidende Sätze | |
zu sagen hatte. ’Kann irgendjemand den Text?‘, fragte Gründgens und guckte | |
so in die Runde. Und da sich keiner sonst meldete und ick ja die ganze Zeit | |
ditt Regiebuch vor mir liegen hatte, meinte ick denn: ’Ja, hier, ick. Ick | |
kann den Text.‘ Der Gründgens guckte und lächelte und sagte: ’Na, denn | |
machen Se mal.‘ “ | |
Mütterchen stieg auf die Bühne und spielte die Rolle, und sie machte das so | |
gut, dass Gustaf Gründgens unten im Parkett ganz beeindruckt war und von | |
unten rauf zu Mütterchen sagte: „Sie sind großartig!“ | |
Stellt euch mal vor, ihr trefft euer größtes Idol; den Künstler, Fußballer, | |
Wissenschaftler, den ihr am allermeisten von allen auf der ganzen Welt | |
bewundert; und dann passiert tatsächlich das Unfassbare: Ihr dürft mit dem | |
zusammenarbeiten, und euer Idol ist beeindruckt! Ich denke, Abitur und | |
Führerschein am selben Tag werden dem Gefühl des Stolzes ungefähr gerecht, | |
das Mütterchen empfunden haben muss. „Schade, dass es keine Männerrolle | |
ist“, soll Gründgens gesagt haben, als sie wieder neben ihm saß. | |
Kurz darauf ging Gründgens nach Düsseldorf. Mütterchen ist sich sicher: | |
„Wenn Gründgens geblieben wäre, hätte ich wieder richtig Theater spielen | |
dürfen.“ So blieb sie Regieassistentin. 40 Jahre am Deutschen Theater. | |
In den Theaterchroniken sucht man den Namen Ellis Heiden vergebens. | |
13 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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