# taz.de -- Debatte Religionsfreiheit in den USA: Kruzifix statt Kondome | |
> Im Kampf gegen Obamacare haben Konservative beim obersten Gericht einen | |
> wichtigen Sieg eingefahren. Trotzdem verlieren sie an Macht. | |
Bild: Na, na, na. | |
Es ist eine komplexe Sache mit der Religionsfreiheit in den USA, einem | |
Land, in dem nicht besonders auffällt, wenn jemand im Restaurant vor dem | |
Mittagessen betet. Zunehmend wird das auf dem Papier und oft auch in der | |
Praxis hochgehaltene Prinzip, ein jeder dürfe glauben, was er wolle, und | |
der Staat müsse die Finger lassen vom religiösen Innenleben seiner Bürger, | |
neu interpretiert von konservativen Christen. Die fühlen sich bedroht von | |
der zunehmend „weltlichen“ Gesellschaft und nutzen die „Religionsfreiheit… | |
als Waffe. | |
Das „liberale“ Amerika betrachtet die Justiz gern als „neutral“ und | |
wohlwollend; hatten nicht die Richter in den sechziger Jahren Urteile | |
gefällt gegen die Rassentrennung? Heute jedoch sind die Gerichte bei der | |
Auseinandersetzung um religiöse Rechte zu Zufluchtsorten für Konservative | |
geworden. Folgender Richterspruch erging am letzten Junitag: Das oberste | |
US-Gericht urteilte mit fünf zu vier Stimmen, bestimmte Unternehmen und | |
nicht nur Personen dürften sich aus „religiösen Gründen“ von Gesetzen | |
ausnehmen. | |
Das Konzept einer gläubigen Firma ist ein absolutes Novum in der | |
Rechtsgeschichte. Bei den fünf Richtern handelt es sich um katholische | |
Männer, die allesamt von republikanischen Präsidenten ernannt worden sind. | |
(Die obersten Richter amtieren auf Lebenszeit.) Was kommt als Nächstes: | |
Taufe und Konfirmation für die gläubigen Firmen, oder, besser noch: die | |
Beichte? | |
Das fragliche Gesetz ist eine Vorschrift in der „Obamacare“ genannten | |
Gesundheitsreform, der zufolge mittlere und große Arbeitgeber Beschäftigen | |
Versicherungen anbieten müssen, die für eine breite Palette von | |
Empfängnisverhütungsmitteln zahlen. (Kirchen sind ausgenommen; die | |
Versicherung übernimmt die Kosten.) Der Rechtsstreit wird als das „Hobby | |
Lobby“-Urteil in die Geschichtsbücher eingehen. | |
Hobby Lobby ist eine 576 Läden zählende Bastel- und Geschenkartikelkette; | |
im Sonderangebot sind gegenwärtig „dekorative Kruzifixe“, Vogelhäuschen u… | |
Kleiderhaken aus Rehgeweih. Sie gehört der evangelikalen Familie David und | |
Barbara Green aus Oklahoma. Für viele konservative Christen sind die Greens | |
Helden; die größte protestantische Kirche in den USA, die Südlichen | |
Baptisten, hatte bei ihrer Jahresversammlung für den Erfolg der Klage | |
gebetet. Kürzlich waren die Greens bei Papst Franziskus zu Besuch, der sich | |
nach dem Rechtsstreit erkundigt haben soll. | |
Die Familie verkündet, sie wolle mit ihrem Leben und eben auch der | |
Ladenkette Gott verherrlichen. Obwohl nicht die Greens selber für die | |
Versicherung zahlen, sondern ihre Firma, brachte Hobby Lobby bei der Klage | |
vor, Empfängnisverhütungsmittel wie die „Pille danach“ verstießen gegen | |
ihre Gewissensfreiheit, weil sie „Abtreibungen“ einleiteten. Faktisch ist | |
das falsch, doch die fünf Richter ließen die Behauptung gelten. Auch | |
bestimmte Unternehmen hätten religiöse Rechte, nämlich „closely held“ | |
Konzerne. Damit meint man Unternehmen im Familienbesitz oder mit nur | |
einigen wenigen Anteilseignern. Dutzende multinationale Konzerne, darunter | |
der Agrarriese Cargill (140.000 Beschäftigte) und Computerhersteller Dell | |
(111.000 Beschäftigte) sind „closely held“. Und die meisten kleinen | |
Betriebe ohnehin. | |
Es war ein Feel-good-Augenblick 1993, als der demokratische Präsident Bill | |
Clinton das nahezu einstimmig beschlossene „Gesetz zur Wiederherstellung | |
der Religionsfreiheit“ unterzeichnete. Das Thema war damals akut wegen | |
zweier amerikanischer Ureinwohner aus Oregon, die bei religiösen Riten | |
Peyote konsumiert, eine in den USA illegale Droge, und daraufhin ihre Jobs | |
verloren hatten. Das gehe nicht an, protestierte die Politik, und viele | |
Gläubige stimmten zu. | |
## Immer mehr Ungläubige | |
Nach dem Prinzip der Glaubensfreiheit, heißt es im | |
Wiederherstellungsgesetz, müssen Bürger Gesetze nicht befolgen, die der | |
freien Religionsausübung „wesentliche Bürden“ auferlegen, es sei denn, der | |
Staat mache „zwingende Gründe“ geltend. Die New York Times lobte die Reform | |
als Beweis, dass die US-Gesellschaft „auch religiösen Praktiken viel Raum | |
gewährt, die seltsam erscheinen“. Damals konnte man sich nicht vorstellen, | |
die obersten Richter würden einmal Krankenversicherung mit Familienplanung | |
als „wesentliche Bürde“ für die Glaubensüberzeugung einer Firma einstufe… | |
Es wird nicht bei Empfängnisverhütung bleiben. Das oberste Gericht habe | |
sich mit Hobby Lobby auf ein Minenfeld begeben, warnten die vier | |
unterlegenen Richter (drei Frauen, ein Mann). Der Präsident arbeitet | |
gegenwärtig an einer Vorschrift, Firmen mit Regierungsaufträgen dürften bei | |
der Einstellung und im Arbeitsalltag nicht aufgrund von Gender-Identität | |
und sexueller Orientierung diskriminieren. Die römisch-katholischen | |
Bischöfe und namhafte evangelikale Geistliche wollen offenbar vorsorgen: | |
Obama müsse „robuste Ausnahmeregeln“ zulassen für religiöse Arbeitgeber. | |
Die Idee, eine Firma könne das Adjektiv „christlich“ verdienen und | |
religiöse Rechte in Anspruch nehmen, stößt allerdings auch bei vielen | |
Christen auf Unverständnis. In der Bibel sei das Christ-Sein Einzelpersonen | |
vorbehalten, schrieb der evangelikale Blogger Jonathan Merritt. | |
Letztendlich ist der Versuch, vermeintlich religiöse Grundsätze per Gesetz | |
oder Gerichtsurteil zu verankern, das Rückzugsgefecht eines Segments der | |
Konservativen, das sein traditionelles Amerika dahinschwinden sieht. | |
Die Werte der Mehrheit in den USA verändern sich, gerade bei der | |
Sexualmoral und Genderanliegen. An die 60 Prozent befürworten die | |
Legalisierung der Homoehe. In 19 der 50 Bundesstaaten ist sie bereits | |
legal. Die am schnellsten wachsende Religionsgruppe ist die der Menschen, | |
die keiner Religionsgruppe angehören. | |
Die fünf konservativen Richter beim Hobby-Lobby-Urteil sind dieselben, die | |
im Jahr 2000 urteilten, das Verfassungsrecht der Redefreiheit gelte nicht | |
nur für Menschen, sondern auch für Konzerne – und Wahlspenden seien | |
Ausdruck von Redefreiheit. Der Republikaner Romney betonte im Wahlkampf | |
gegen Obama, Konzerne seien auch Menschen. Aber nicht einmal er hat | |
behauptet, dass Unternehmen „glauben“ könnten. | |
20 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Konrad Ege | |
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