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# taz.de -- Stadtarchivar von Ratzeburg: Der Rückblicker
> Als Stadtarchivar von Ratzeburg kümmert sich Christian Lopau um Jubiläen,
> Stolpersteine und Flüchtlingsschicksale.
Bild: Freut sich, wenn er helfen kann: Stadtarchivar Christian Lopau.
RATZEBURG taz | Bevor er den Kaffee in die Tassen gießt, muss Herr Lopau
erstmal erzählen, was ihm gerade passiert ist. Also – da erreicht ihn aus
Frankreich eine Nachricht, dass man dort auf die sterblichen Überreste
eines deutschen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gestoßen sei: ein Soldat
aus dem lauenburgischen Ratzeburg, wie dessen Kennmarke ergeben habe. Nun
liegt dort ganz in der Nähe auf einem Friedhof bereits ein Soldat aus
Ratzeburg beerdigt. Anfrage daher: Könnte es sein, dass die beiden
vielleicht verwandt sind? Handelt es sich um Brüder? Wenn ja, dann könnte
man den gefundenen Soldaten zu dem schon beerdigten Soldaten mit ins Grab
legen.
## Spekulieren geht nicht
Leider hat Christian Lopau, Stadtarchivar von Ratzeburg, in seinen
Unterlagen keine entsprechenden Hinweise finden können: Zwar hatte jener
beerdigte Soldat tatsächlich Brüder, mehrere sogar, wie dessen
Familienstammdaten ergeben hätten. Aber wo welcher Bruder damals im Krieg
war und ob überhaupt – das ließe sich beim besten Willen nicht sagen. „Und
man muss ja genau sein“, sagt Herr Lopau. Spekulieren, das sei nicht sein
Handwerkszeug.
Christian Lopau residiert in einem strahlend weißen Bau auf der Ratzeburger
Insel, gleich neben dem Rathaus. „Demolierung“ heißt die Straße, was
erstmal ulkig klingt, aber nichts anderes als den Abriss der dortigen
Festung während der Franzosenzeit benennt.
Betritt man die Archivräume, wechselt man die Welt: Es riecht nach
Bücherstaub, die Luft ist sehr trocken, man hört förmlich das vorsichtige
Umblättern von brüchigem Papier schwerer Folianten und im selben Moment
steht die Zeit still, damit man sie untersuchen kann. Und da sitzt er
hinter seinem Bildschirm, durchaus überschaubare Stapel an Büchern,
Broschüren und Unterlagen links und rechts neben sich.
Er kommt hier aus dem Kreis, sei hier verwurzelt. Aufgewachsen in einem
Dorf bei Büchen, Schule in Mölln, dann in Ratzeburg, Abitur. Auch zum
Studieren ging es nicht allzu weit weg – nach Hamburg; Literatur und
Geschichte wurden es.
Ein Schwerpunkt: filmische Umsetzungen von Literatur über den Ersten
Weltkrieg, er macht seinen Magister, will schreiben, wünscht sich eine
Anstellung in einem Verlag, aber nichts will richtig klappen. Eher
halbherzig setzt er sich an eine Doktorarbeit, hadert mit gelegentlichen
Uni-Jobs, wohin soll das ganze führen? Bis er eines Tages von einer halben
Stelle im Archiv in Mölln liest: nur eine Aufwandsentschädigung gäbe es,
dafür freie Zeiteinteilung. „Ich hab gedacht: Drei Tage dieser Job, dann
hast du vier Tage für deine wissenschaftliche Forschung, das passt doch“,
sagt Lopau damals und heute.
Und merkt, was für einen Spaß das Arbeiten im Archiv ihm bald macht. Viel
mehr als an der Uni. ’Uni, das war’s‘, sagt er schließlich, erst recht, …
das Archiv aus Mölln und das Archiv aus Ratzeburg in eine
Archivgemeinschaft zusammengeführt werden sollen. Nun hat er eine ganze
Stelle, man wird damit nicht reich, aber es rechnet sich.
„Ich habe diesen Schritt weg von der Uni nie bereut“, sagt er. „Es ist ei…
wunderbare Arbeit. Mal sehr ruhig, dann sitze ich hier tagelang allein, und
dann wieder bin ich ständig unterwegs und nur unter Menschen.“
## Zugang zur Gegenwart
Steht ein Stadtjubiläum zu feiern an, sorgt er für die geschichtlich
korrekten Hintergründe. Er rekonstruiert Familienlebensläufe, recherchiert
für Stolpersteine, er wertet die Bauzeichnungen einzelner Gebäude aus, und
er ist auch pädagogisch tätig: Gerade betreut er ein Schülerprojekt zum
Ersten Weltkrieg.
Auch einen Zugang zur Gegenwart gibt es, wie im letzten Herbst, als der
bundesweite „Tag des Flüchtlings“ vor der Tür stand: Vor Ort organisiert
von verschiedenen, meist kirchlichen Initiativen, mit der klaren Intention,
Verständnis für die Flüchtlinge zu wecken, die da dieser Tage aus Syrien,
dem Irak oder Afghanistan auch nach Ratzeburg kamen. Lopaus Beitrag: zu
schauen, was für Fluchterfahrungen aus anderen Jahrhunderten sich in seinem
Archiv finden ließen, die man möglicherweise den heutigen Fluchterlebnissen
von Menschen gegenüberstellen könnte. Naheliegend ist es, Fluchterfahrungen
vor und nach dem Kriegsende 1945 zu betrachten: „Wie sind wir damals mit
Menschen umgegangen, die auf der Flucht waren und die zu uns kamen? Das zu
erfahren, ist doch spannend.“
Dazu hat er ein persönliches Erlebnis, vor einigen Jahren, ein Jahrestag
des Kriegsendes: „Es war ein Gesprächsabend in der Vorstadt, in der viele
ehemalige Flüchtlinge aus den Ostgebieten heute leben. Die erzählten, wie
man sie damals aufgenommen hat: ’Die haben uns hier wie Dreck behandelt.‘
Das hat mir die Augen geöffnet.“
## Erfolgreiche Integration
Lopau zählt nüchtern auf: „Ratzeburg hatte vor 1945 6.500 Einwohner –
danach waren es 13.000. Genauso war es in Mölln und auf den umliegenden
Dörfern auch.“ Trotz aller Spannungen und langer Vorbehalte gegen die
Fremden aus dem Osten habe am Ende die Integration geklappt. „Im Vergleich
zu damals, sind wir doch heute in einer komfortablen Situation“, sagt
Lopau. „Wir hätten es leicht, zu teilen.“
Lopau geht kurz zurück in die Geschichte: in den Dreißigjährigen Krieg, als
sich die Menschen aus dem geplünderten und völlig zerstörten Magdeburg nach
Ratzeburg retteten. Erwähnt die Wirren der napoleonischen Kriege, als sich
immer wieder Einzelne aus den sich auflösenden Heeren absetzten und hier
eine neue Zukunft suchten. Nicht zuletzt wäre da Ratzeburg selbst: 1693
wird es von dänischen Truppen beschossen, ganze fünf Häuser und der Dom
bleiben stehen, die Menschen hausen in den Ruinen – und sie flüchten etwa
nach Lübeck und sind heilfroh, dass man sie dort aufnimmt, bis der
Wiederaufbau der Stadt beginnt. „Man muss den Menschen heute sagen: Ohne
eine Zuwanderung, ohne Migration, ohne Fachkräfte, die sagen: ’Wir gehen
von zu Hause weg‘, entwickelt sich nichts“, sagt Lopau.
Gewiss, es gäbe noch immer ausländerfeindliche Töne, die einem Angst
machten. Doch auch hier helfe der Blick zurück, um zu würdigen, was schon
passiert sei. So ging es ihm, als er in Vorbereitung der
Gedenkveranstaltungen zum zwanzigsten Jahrestag der Brandanschläge im
benachbarten Mölln vom 23. November 1992 in sein Archiv stieg: „Ich habe
mir die damalige Berichterstattung aus dem halben Jahr davor angeschaut,
also vom Sommer bis zum November. Wenn ich da nachlese, was damals aus der
Kommunalpolitik und den Gemeinden heraus zu hören war, wie da von
’Asylbetrug‘ und ’Asylantenschwemme‘ gesprochen wurde und wie dort ein
Bedrohungspotenzial aufgebaut wurde – ja, ist es eigentlich ein Wunder, was
dann an Gewaltausbrüchen passiert ist?“
Solche Stimmen seien seiner Einschätzung nach heute nicht mehr möglich. Und
er verweist auf den runden Tisch der Stadt Ratzeburg, der sich gegründet
habe, um den heutigen Flüchtlingen zu helfen, und auf welch breite
Unterstützung der unter den Bürgern und in der Politik zählen könne.
Genug des Blicks zurück? Christian Lopau, der Geschichtsforscher, der
Ratzeburger, hat noch eine Geschichte auf Lager, die wiederum vom
Spannungsfeld der harten Fakten und dem Fingerspitzengefühl, dem siebten
Sinn, aber auch dem Engagement erzählt, das ein Stadtarchivar haben muss,
will er das Leben der Menschen nicht nur erforschen, sondern bei aller
professionellen Distanz auch auf seine ganz eigene Weise begleiten: Als
viele der ehemaligen, ins Deutsche Reich verschleppten Zwangsarbeiter ab
den 1980er Jahren ins Rentenalter kamen, benötigten sie Nachweise, wo und
wann genau sie zur Arbeit gezwungen worden waren: „Ich bekam eine Anfrage
von einem Mann, der wusste nicht mehr den Namen des Bauern, bei dem er
arbeiten musste. Und er wusste auch nicht mehr den Namen des Dorfes, in dem
das gewesen war. Aber er konnte beschreiben, wie das Dorf ausgesehen hat;
dass es dort zwei kleinere Seen oder größere Teiche gegeben habe, wo das
Kriegerdenkmal stand und dass von dort aus vier Wege abgingen.
## Hilfe vor Ort
Der Mann konnte eine ungefähre Streckenangabe machen, wie weit es nach
Mölln wäre. Und was habe ich gemacht? Ich bin an einem Nachmittag mit dem
Auto rumgefahren, hab mir die Dörfer auf seine Beschreibung hin angeguckt –
und ich hab das Dorf und den Hof gefunden und wir konnten ihm ganz amtlich
bescheinigen, dass er hier gewesen ist.“
Lopau nimmt einen letzten Schluck Kaffee und strahlt übers Gesicht: „Das
sind Höhepunkte, das sind Glanzpunkte meiner Arbeit – und ich sage dann
immer zu mir: Ach, schön, dass ich das miterleben kann.“
15 Jul 2014
## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
Stadtarchiv
Insel
Stadtarchiv
Wikipedia
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