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# taz.de -- Stralsunds Weltkulturerbe: So verschimmelt wie verstockt
> Schimmelbefall und Buchverkäufe machen aus der Hansestadt Stralsund einen
> Weltkulturverderber. Und das Rathaus schweigt sich aus.
Bild: Sieht schön aus, ist aber zum Lagern alter Bücher nicht geeignet: Blick…
STRALSUND taz |Die Möwen kreischen, die Ostsee schwappt an die Mole, und
die Glocken von St. Nikolai verkünden den Feierabend. Nur der junge
Oberbürgermeister von Stralsund schweigt. Interviewanfragen lässt Dr.
Badrow abweisen. Eine Chronologie zum Schimmel und zum Bücherverkauf stehe
im Internet bereit, man möge aber Verständnis aufbringen, „dass es darüber
hinausgehende Informationen gegenwärtig nicht geben kann“. Es klingt, als
würde ein Bann über der Hansestadt liegen, der den Ratsherren die Münder
versiegelt hat. Die Backsteinkulisse passt gut.
„Das Redeverbot war ein Fehler“, sagt Dieter Bartels. Den 71-Jährigen eine
Autorität zu nennen ist das Mindeste in Stralsund. In Jeans und Pullover
sitzt er in einer Büroküche im dritten Stockwerk eines Geschäftshauses und
hat doch die Aura eines Patriziers. Bartels ist gegen den Bann immun. Er
sieht aus dem Fenster, von hier oben hat man einen weiten Blick über den
Sund nach Rügen. „Ich bin DDR-Bürger gewesen, wo leben wir denn?“
Bartels schaut aufs Wasser, als würde von dort die Antwort kommen. Der
Bürgermeister schweigt zur politischen Verantwortung, die Leiterin des
Stadtarchivs schweigt zum Motiv, warum sie eine einzigartige Bibliothek
verramscht hat und warum in ihrem Haus der Schimmel grassiert, und der
Pressesprecher verweist auf eine Chronologie, die sich liest, als hätten
sie SED-Sekretäre verfasst.
Stralsund hat sich seit 1989 märchenhaft entwickelt, skandinavische Könige
kamen über das Meer, George Bush und Gattin Laura gaben sich die Ehre, und
Angela Merkel scheint hier jeden Pflasterstein zu kennen. Im Jahr 2002
adelte die Unesco die Stadt wegen ihrer Backsteingotik mit dem
Weltkulturerbetitel. Doch ein Geschäft mit einem Antiquar hat das Ansehen
der Stadt binnen Tagen zugrunde gerichtet.
## Weltkulturverderber
Im Rückblick klingt das, was selbst die Regionalzeitung nur noch als
„Bibliotheksskandal“ bezeichnet, wie eine Anekdote von Johann Peter Hebel,
die auf dem Alten Markt von Stand zu Stand wanderte: Schon gehört, der
Bürgermeister hat das Stadtarchiv schließen lassen. Warum denn das? Weil
die Bücher vom Schimmel befallen sind. Vom Schimmel? Ja, ein Antiquar aus
Bayern hat den Bürgermeister darauf hingewiesen. Ein Antiquar? Ja, als er
die Bücher abgeholt hat. Welche Bücher? Na die Bücher der
Gymnasialbibliothek. Die wertvolle Gymnasialbibliothek? Verschimmelt? Dann
verscherbelt? So ging der Klatsch. Und dann kam diese Verstockung über den
Bürgermeister.
Alexander Badrow von der CDU hätte auch Mühe zu erklären, warum die
Bürgerschaft eine der bedeutendsten Schulbibliotheken, dessen Bestände bis
ins 15. Jahrhundert reichen, verkauft hat. Der 39-Jährige müsste auch
erklären, warum im Stadtarchiv, wo einmalige Quellen zur pommerschen
Landesgeschichte und zur Geschichte der Hanse aufbewahrt werden, Schimmel
wuchert. Und er müsste offenlegen, wie viele Bücher zu welchem Preis die
Stadt verkauft hat.
„So’n Schwachsinn auch, dass der Bürgermeister die Zahl der Bücher geheim
hält“, wirft Dieter Bartels ein und schaut wieder hinaus, als fürchte er,
dass Sturm aufzieht. Einen Marktklatsch gab es nicht, tatsächlich
interessierten sich die Bürger der 60.000-Einwohner-Stadt kaum für ihre
kostbare Bibliothek. Seit 28 Jahren soll niemand mehr hineingeschaut haben.
Von „totem Kapital“ soll die jetzige Leiterin geredet haben. Der Sturm
brach vom Internet aus über die Stadt herein. Klaus Graf, Archivar aus
Aachen, erfuhr von Schimmel und Buchverkauf und stellte alles in seinen
Blog. Seitdem ist vom „Kulturfrevel“ die Rede, von den
„Weltkulturverderbern“ oder vom „Bibliotheksskandal“.
„Hier steht: Geraubtes Erbe“, Bartels und beugt sich über einen
Zeitungsartikel. „Nichts ist geraubt“, brummt er. „Es geht den Büchern d…
hoffentlich besser als hier.“ Dieter Bartels ist Vorsitzender des
Bürgerkomitees „Rettet die Stralsunder Altstadt“, das im Herbst 1989
gegründet wurde und maßgeblich daran beteiligt war, dass Stralsund den
Welterbetitel erhielt. Er kennt jede Fassade, jede Baulücke, er kennt auch
das Johanniskloster, in dem ab 1963 das Stadtarchiv Einzug hielt.
## Muff war immer da
Der damalige Direktor Herbert Ewe habe die Ruine mitten in der
DDR-Mangelwirtschaft in ein Schmuckstück verwandelt, berichtet Bartels.
„Schon damals war aber klar, dass das keine optimalen Bedingungen sind. Es
roch immer muffig.“ Oh, oh, das ist ein Problem, habe auch Ewe geunkt. Doch
mehr war damals nicht drin, auch keine Heizung. Jedes andere Stadtarchiv in
der DDR war schlechter anzusehen, und zwischen den bröckelnden
Kaufmannshäusern war das Johanniskloster der Star.
Ewe habe das Kloster geschickt genutzt, erzählt Bartels. Er lud
Betriebsbrigaden ein, zeigte SED-Sekretären kolorierte Inkunabeln, konnte
manche DDR-Mark und manchen Sack Zement fürs Archiv abzweigen. 1984
schickte Erich Honecker Staatsgast Olof Palme, den schwedischen
Ministerpräsidenten, zu Ewe ins Kloster, der ihm Schätze aus
Schwedisch-Pommern präsentierte, dessen Hauptstadt Stralsund war.
Ewe war es auch, der das Bürgerkomitee zur Rettung der Altstadt gründete.
In Bartels’ Büroküche bezeugen viele Fotos von verfaulten Dachstühlen oder
eingestürzten Gewölben das Anliegen, die Stadt zu retten. Dabei – weit über
eine Milliarde Euro wurden investiert – ist das Johanniskloster ein wenig
aus dem Blick geraten. Das Stadtarchiv galt nicht als Problem, im
Gegenteil. Niemand kam auf die Idee, dass dort Folianten schimmeln.
Wenn man Dieter Bartels zuhört, scheint er zu bedauern, dass kein neuer Ewe
die Geschicke des Archivs in die Hände nimmt. Die Archivleiterin sei eine
hoch angesehene Person, betont er, sagt aber, dass Ewes Schuhe wohl doch
etwas zu groß gewesen seien. Jedenfalls sei das Archiv in der Stadtpolitik
nicht mehr aufgefallen. Auch nicht, als 2002 ein Archivmagazin geräumt
wurde und ins Kloster kam. 2006 starb Übervater Ewe.
## Schimmel für Merkel
Heute lockt das Ozeaneum mit Aquarien und den Pinguinen auf dem Dach. Eine
Million Besucher kamen seit 2008 in den futuristischen Bau am Hafen. Was
zählen da die gut 500 Archivnutzer pro Jahr? Der Seismograf für diesen
Wandel heißt Angela Merkel. Wenn sie in den letzten Jahren in die Stadt
kam, ließ sie sich gern vor dem Ozeaneum, in der Werft oder auf der neuen
Sundbrücke ablichten.
Apropos Merkel – auch wenn die Kanzlerin nicht in Stralsund wohnt, hat sie
hier ihre politische Heimat. Der Wahlkreis Stralsund-Nordvorpommern-Rügen
hat sie seit 1990 stets mit einem Mandat versorgt, und so dürften der
Schimmel und die zerfledderte Bibliothek irgendwann im Wahljahr 2013 auch
auf Merkels Tisch landen. Das ist die Hoffnung für das Archiv, glaubt
Dieter Bartels, der die Kanzlerin, halb despektierlich, halb kokett,
„Angie“ nennt. Doch zunächst müsse die Bibliothek zurück. Falls dafür G…
nötig ist, werde er mit seinem Komitee helfen. Bartels ist Pragmatiker. Der
Schaden sei reparabel, „doch die Rufschädigung bleibt“.
Nicht weit von Bartels’ Büro liegt das Johanniskloster. Backsteinfluchten,
ein mächtiger Efeu rankt hinauf, hinter dickem Glas stehen Regale, Bücher,
Kartons und an der Tür ein Gruß vom Bürgermeister: „Aus technischen Gründ…
bis auf Weiteres geschlossen“. Da irgendwo wächst der Schimmel durch das
kulturelle Erbe, als wär’s Roquefort. Dachziegel liegen bereit. Es ist
nicht so, dass das Archiv Winterschlaf hält, derzeit wird das Dach gedeckt.
Eine Tafel verkündet stolz: „Welterbe erhalten – Zukunft gestalten“. Hin…
dem Kloster neigt sich das Gelände dem Sund zu. Sein Wasser glänzt beinahe
ruhig, und doch scheint es wie eine Bedrohung.
Bernd Kasten, Stadtarchivar aus Schwerin und in sicherem Abstand zum Meer,
wird am nächsten Tag ebenerdige, nicht unterkellerte Zweckbauten loben.
Historische Gemäuer seien für Archive kaum zu gebrauchen. Aus den Kellern
krieche die Feuchtigkeit, und die Geschossdecken hielten die Lasten nicht.
Er selbst habe einen alten Kindergarten umbauen lassen, nicht
repräsentativ, aber solide. Möglicherweise steht das Stralsund auch bevor.
## Mantel des Schweigens
Oberbürgermeister Badrow hat sein öffentliches Schweigen einmal gebrochen.
Als nach dem Bücherverkauf ein Gutachten zu dem Schluss kam, dass die
Gymnasialbibliothek niemals hätte verkauft werden dürfen, nannte er den
Deal einen Fehler, suspendierte die Chefin des Archivs und leitete die
Rückkehr der Bücher ein. Warum die Leiterin ihr Archiv „bereinigen“ wollt…
wofür sie die Einnahmen – die Ostseezeitung spricht von 95.000 Euro –
verwenden wollte und wie der Schimmel vernichtet werden soll, darüber
schweigt sich der Oberbürgermeister aus.
Vor der Misere hat sich Badrow gern zum kulturellen Erbe geäußert. „Oft
schätzt man das Eigene erst in der Fremde“, mahnte er noch im Juni vor der
deutschen Unesco-Kommission, die in Stralsund tagte. Heute klingt diese
Binsenweisheit wie ein Prophetenwort. Am Montag nun kehrten 5.278 der
ursprünglich über 6.000 Bände nach Stralsund zurück, Asyl fanden sie in
einem Verwaltungsbau. Die restlichen Bücher hat der Antiquar weiterverkauft
oder wegen Schimmels weggeworfen.
Die deutsche Unesco-Kommission hat sich inzwischen besorgt gezeigt über den
Stralsunder Umgang mit Kulturgut, und die Staatsanwaltschaft Stralsund
ermittelt wegen Verdachts auf Untreue. Wer gehofft hatte, das Trauerspiel
findet mit der Rückkehr der Bücher sein gnädiges Ende, sieht sich
getäuscht. Am Montag bestätigte die Staatsanwaltschaft, dass bereits im
März rund 1.000 Bücher verhökert wurden. Wohin die 20.000 Euro Erlös
geflossen sind, sei unklar.
5 Dec 2012
## AUTOREN
Thomas Gerlach
## TAGS
Stadtarchiv
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Unesco
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