# taz.de -- Neue Bücher über Jazz: Immer diese Sammler-Daddys | |
> Zwei Bücher erkunden das Wesen des Jazz. Kevin Whitehead fragt „Warum | |
> Jazz?“, Daniel Martin Feige schreibt eine „Philosophie des Jazz“. | |
Bild: Auch beim Claudia Quintet geht es um Interaktion und Kollaboration der Mu… | |
Wer auch nur einmal erlebt hat, wie Jazzkritiker direkt nach einem Konzert | |
sich gegenseitig im Herunterbeten von Aufnahmen und Bandkonstellationen | |
messen, als gelte es, Platin-Status zu erlangen, versteht sofort, warum der | |
Jazz in den deutschen Feuilletons vor sich hin vegetiert. | |
Dass Aufzählungen von Bandleadern und deren einstmaligen Mitspielern | |
ungefähr so aussagekräftig über die Musik sind wie schnöde Verkaufszahlen, | |
muss sich erst noch herumsprechen – der über Jahrzehnte eingeübte Reflex, | |
die erbeuteten Trophäen zu präsentieren ist einfach stärker. | |
Kevin Whitehead, US-Selfmade-Journalist in Sachen Jazz, weiß diesen Reflex | |
in seinem Buch „Warum Jazz? 111 gute Gründe“ trefflich zu bedienen. Denn | |
kaum einem Musikstil eilt so sehr der Ruf voraus, für das sinnenhafte | |
Konzerterlebnis sei Vorwissen notwendig. An diesem Mythos nach Kräften | |
mitgearbeitet haben auch hierzulande Sammler-Daddys, deren sakrosankte | |
Deutungshoheit die öffentlichen Debatten über Jazz nach wie vor zuverlässig | |
lähmt. | |
Für diese, und alle die es werden wollen, ist Whiteheads „Schnellkurs“ eine | |
Bestätigung des eigenen Geschmacksurteils. Er schwelgt in glorreichen alten | |
Zeiten, in denen die Selbststilisierung als Jazzhörer (wohlgemerkt: | |
männlichen Geschlechts) noch gesellschaftliche Distinktion versprach. | |
Da spielt es keine Rolle, dass seriöse Jazz-Exegeten den Begriff der | |
„Synkope“ aus guten Gründen nur noch auf die Vorformen des Jazz, nämlich | |
Ragtime und Cakewalk anwenden. So konsequent Whitehead in der gesamten | |
Jazzgeschichte bis in die neunziger Jahre Bezüge zum Ragtime wittert, so | |
„synkopiert“ spielen Musiker aller Stile und Instrumente seiner Wahrnehmung | |
nach. | |
Womit wir beim zweiten, wesentlich schmerzhafteren Defizit von Whiteheads | |
Buch „Warum Jazz?“ wären: der Bemäntelung von Sprachlosigkeit in der | |
Beschreibung seiner Musik durch Überfrachtung mit Adjektiven als | |
vermeintlichem Ausweis von Kennerschaft. | |
## „Wie ein Eichhörnchen dahinhüpfend“ | |
Musiker spielen wahlweise „lyrisch“, „kühl distanziert“, oder gar „w… | |
Eichhörnchen dahinhüpfend“ – die Liste ließe sich unrühmlich fortsetzen. | |
Dem Übersetzer Michael Müller unterläuft aber der Fehler, den englischen | |
Sammelbegriff „horns“, mit „Hörnern“, zu verwechseln und das in einer | |
Besetzung mit Trompeten und Saxofonen. Eine unfreiwillige Reminiszenz an | |
die ersten Übersetzungen angloamerikanischer Jazzbücher aus den 1950er | |
Jahren. | |
Whiteheads Buch im Frage-Antwort-Schema bleibt die 111. Frage allerdings | |
schuldig: Warum berührt uns Jazz eigentlich? | |
Daniel Martin Feiges „Philosophie des Jazz“ liefert so schlichte wie | |
nachvollziehbare Denkanstöße für die sinnliche Spurensuche nach dem | |
Potenzial dieser Musik, Gefühlsregungen auszulösen. Zum Beispiel dieser, | |
„dass gelungene Jazzperformances in ethischer Hinsicht exemplifizieren, was | |
es heißt, sich anzuerkennen und füreinander Verantwortung zu tragen.“ | |
## Das Streben nach dem eigenen Ton | |
Das Konzert als gegenwartsbezogenes Ereignis ist hiermit angesprochen | |
ebenso wie Interaktion und Kollaboration der Musiker, an denen ein Publikum | |
teilhaben kann. Dem Philosophen zufolge können Zuhörende sich während eines | |
Konzerts „in neuer Weise entdecken“. Und zwar deshalb, weil Ausgang und | |
Verlauf einer Improvisation „prinzipiell zur Disposition“ stehen. Dahinter | |
stehen lange Hörprozesse, das Streben nach dem eigenen Ton und eine Art | |
angewandte Offenheit, sich immer wieder auf unvorhergesehene Momente | |
einlassen zu können. | |
Wie Feige herausarbeitet, kann sich eine einzige Stimme nur im Verbund mit | |
den anderen erheben und so stiftet dieses Gefüge einen Sinn, der sich | |
unmittelbar mitteilt. Weil jede Improvisation auch die Bedingungen ihres | |
Er- und Verklingens offenlegt und so als „Antwortgeschehen“ auf vorherige | |
Performances funktioniere, spricht Feige von der „retroaktiven | |
Zeitlichkeit“ der Improvisation. Diese werde im Jazz explizit, wohingegen | |
sie in europäischer Kunstmusik implizit bleibe. | |
Verblüffend, wie Feige diesen Kontrast nutzt, um Gemeinsamkeiten und | |
Unterschiede dieser Musiken zu benennen und dabei mit Vorurteilen gegen | |
beide aufzuräumen. Jazz geht uns an, ob im Bewusstsein der in ihm gelebten | |
„verkörperten Tradition“ und seines „praktischen Wissens“ oder nicht. | |
Feiges schmaler Band muss gelesen werden, am besten vor und nach | |
Jazzkonzerten. | |
Er regt an zum Sprechen über die Musik, sei es in hitzigen Diskussionen | |
oder glühenden Ovationen. Sie können nach der Lektüre also gelassen in | |
mitleidige Sammlermienen blicken. | |
3 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Franziska Buhre | |
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