| # taz.de -- Wole Soyinka über Gewalt in Nigeria: „Wie ein tollwütiger Hund�… | |
| > Noch immer hält Boko Haram 200 Mädchen gefangen. | |
| > Literaturnobelpreisträger Soyinka sieht dies als Bankrotterklärung | |
| > humanitärer Bemühungen. | |
| Bild: Eine Teilnehmerin des Protestzugs zum 100. Tag der Entführung der Schül… | |
| taz: Lassen Sie uns zunächst über die aktuelle Situation sprechen. Haben | |
| Sie Informationen über den Verbleib der entführten 200 Mädchen in den | |
| Händen von Boko Haram? | |
| Wole Soyinka: Ich verfüge über keine anderen Informationen als der Rest der | |
| Welt. Die offiziellen Statements der Militärs sind ebenso nichtssagend wie | |
| zynisch: „Wir wissen, wo die Mädchen festgehalten werden, können aber diese | |
| Information aus Gründen der Sicherheit nicht bekannt geben.“ Manches | |
| spricht für die Anwesenheit von erfahrenen internationalen Unterhändlern im | |
| Sambisawald. | |
| Was wir nicht wissen, ist, wie viele von den Mädchen noch tatsächlich im | |
| Wald gefangen gehalten werden. Einige sind, wie nicht anders zu erwarten | |
| war, inzwischen erkrankt. Alle leiden unter Unterernährung und sind | |
| traumatisiert. Alle werden barbarischer religiöser Indoktrination | |
| unterzogen. Alle gemeinsam repräsentieren eine grandiose Bankrotterklärung | |
| humanitärer Bemühungen. | |
| Was versucht die Terrorgruppe Boko Haram zu signalisieren und wem? Wie groß | |
| ist die Tragweite solcher Aktionen? Sind sie Provokation, Aggression oder | |
| wollen sie eine politische Botschaft kommunizieren? | |
| Das ist eine Frage, die sicher alle denkenden Individuen bewegt, nicht nur | |
| Nationen, nicht nur Regierungen, sondern alle empfindenden Menschen. Wie | |
| interpretieren wir einen derartigen Angriff auf unsere Menschlichkeit? Ich | |
| betrachte ihn als einen extremen Ausdruck von Größenwahn unter dem | |
| Deckmantel religiöser Motivation. Hierbei sind starke psychische Störungen | |
| im Spiel, deren physische Symptome denen eines tollwütigen Hundes nicht | |
| unähnlich sind. | |
| Was würden Sie empfehlen zu tun? Einen internationalen militärischen | |
| Gegenschlag vorzubereiten? Resolutionen zu verabschieden? Zu verhandeln? Zu | |
| warten? | |
| Lassen Sie uns mit zwei entscheidenden Momenten beginnen, die verpasst | |
| wurden. Erstens: Es gab keine gezielten Maßnahmen innerhalb der ersten | |
| Stunden der Entführung, noch bevor sich die Entführer mit ihrer | |
| menschlichen Beute verschanzen konnten. Alle Berichte deuten an, dass | |
| Präsident Jonathan erst einmal die Realität der Entführung anzweifelte. | |
| Er war sicher, es handle sich um Machenschaften seiner politischen Gegner, | |
| um seine Regierung zu stürzen. Dann machten die Entführer anscheinend den | |
| Vorschlag eines Austausches: die Mädchen gegen etwa 100 der Inhaftierten, | |
| die nur ein geringfügiges Risiko darstellen – Ehefrauen, Verbindungsmänner, | |
| Menschen, die als Sympathisanten verdächtigt und von den nigerianischen | |
| Sicherheitskräften festgehalten werden. | |
| Zu diesem Zeitpunkt wäre nichts Beschämendes an einem Austausch gewesen. | |
| Geschmacklos ja, aber nicht demütigend. Allen Berichten zufolge gab es | |
| keine Forderung zur Freilassung von hochrangigen Boko-Haram-Mitgliedern. | |
| Diese beiden Momente gingen vorüber. Präsident Jonathan schuldet der Nation | |
| – ja der Welt – eine Erklärung, warum er diese Momente, in denen es eine | |
| Handlungsmöglichkeit gegeben hätte, nicht ergriffen hat. Jetzt ist die | |
| Situation deutlich komplizierter, und sie wird jede Minute drängender. | |
| Ich sehe keine andere Lösung mehr als einen militärischen Eingriff durch | |
| ein Spezialkommando. Es wird dann Opfer unter den Entführten geben. Ich | |
| beneide niemanden um die Entscheidungen, die man in solchen Momenten | |
| treffen muss, aber ich sympathisiere in keiner Weise mit einer politischen | |
| Führung, die sich selbst in eine ausweglose Situation manövriert hat. Ich | |
| fürchte mich sehr vor dem Ausgang der ganzen traurigen Angelegenheit, in | |
| der es nur Verlierer geben wird. | |
| Sehen Sie irgendwelche koordinierten Verbindungen zwischen den Aktivitäten | |
| in Nigeria, Kenia, im Irak und in Syrien – eine Art islamistisches | |
| Netzwerk? | |
| Aber natürlich. Boko Haram mag ein hausgemachter religiöser Aufstand sein, | |
| dessen Vorgeschichte wir nur zu gut kennen. Es hat aber nicht lange | |
| gedauert, bis sie sich mit Extremisten in Somalia, Afghanistan, Pakistan | |
| und sogar in Mauretanien verbündet haben. Auch in diesem Fall leugneten | |
| Regierungen, Politiker und sogar Sicherheitsbehörden lange Zeit die | |
| Bedrohung. | |
| Jetzt beklagt man lautstark internationale Verflechtungen. Nach dem | |
| Zusammenbruch von Libyen waren viele von Gaddafis Soldaten ihrem Schicksal | |
| überlassen und es blieben Tonnen von Waffen zurück, die jetzt | |
| Nordwestafrika überschwemmen. Vergessen wir dennoch nicht, dass die | |
| militärische Abenteuerpolitik von religiösen Extremisten in Nigeria lange | |
| vor den jüngsten Erschütterungen begann. | |
| Die Destabilisierung arabischer Nationen nach dem Arabischen Frühling hat | |
| Bewegungen wie Boko Haram gestärkt. Unabhängig davon, dass ihr | |
| ideologischer Antrieb das genaue Gegenteil einer demokratisch motivierten | |
| Bewegung ist. Das radikalislamische Netzwerk ist eine Realität, eine | |
| Bedrohung für den gesamten afrikanischen Kontinent, aber die Sprache der | |
| Political Correctness hat es vermocht, die Tatsachen zu verschleiern, und | |
| dadurch verhindert, dass man rechtzeitig Maßnahmen ergreifen konnte, um die | |
| moderne afrikanische Gesellschaft vor solchen Übergriffen zu schützen. | |
| Parallel dazu haben es muslimische Autoritäten lange versäumt, extreme | |
| religiöse Kräfte in ihren Einflusszonen klar zu benennen und zu | |
| verurteilen. Man muss nur die scharfe Sprache von heute mit der | |
| vorsichtigen, beruhigenden, sogar manchmal toleranten Sprache vergleichen, | |
| die noch vor drei Jahren von den muslimischen Autoritäten gesprochen wurde. | |
| Jetzt sind sie schließlich aufgewacht und sehen entsetzt dem Blutrausch der | |
| Boko-Haram-Leute zu. Hoffentlich nicht zu spät! | |
| Man begegnet häufig der Meinung, bei all dem handle es sich um eine krasse | |
| Fehlinterpretation des Islam. Teilen Sie diese Meinung oder glauben Sie, es | |
| gibt ein aggressives Grundpotenzial der Religionen. Warum, glauben Sie, | |
| wirkt gerade das Gewaltpotenzial so faszinierend – auch auf westliche | |
| Jugendliche? | |
| Das Sprichwort „Der Teufel weiß die Bibel zu zitieren, um seine Taten zu | |
| rechtfertigen“ gilt nicht nur für Christen. Muslime sind in dieser Kunst | |
| ebenso bewandert. Nehmen Sie den Fall, der sich vor Kurzem im Sudan | |
| ereignete: Eine Christin wurde des angeblichen Verbrechens der Apostasie, | |
| also des Abfalls vom Islam, angeklagt und zum Tode verurteilt. Jede | |
| Religion, die behauptet, ihre Gläubigen können den Weg der Erlösung nicht | |
| auch in einer anderen Religion suchen, übt Terror aus, statt einen | |
| spirituellen Weg zu weisen. | |
| Ich wurde in eine vorchristliche, vormuslimische Religion geboren, die für | |
| die schlichte Wahrheit eintritt, dass alle Individuen ihren eigenen | |
| spirituellen Weg finden müssen. Diese Wahrheit schuldet anderen Religionen | |
| nichts. In allen Schriften finden wir Stellen, die einfach nur der Macht | |
| und der Unterdrückung dienen, ebenso wie Stellen ursprünglicher | |
| spiritueller Erhebung. Gewöhnliche Sterbliche jedoch entscheiden darüber, | |
| welche der beiden Lesarten zu gelten hat. | |
| Nigeria im 21. Jahrhundert zwischen Postkolonialismus, Globalisierung und | |
| Fundamentalismus: Kann es überhaupt noch eine indigene, traditionelle Form | |
| des kollektiven Gedächtnisses, der kollektiven Identität geben? | |
| Das kollektive Gedächtnis Afrikas ist stark. Es hat der Herausforderung der | |
| Zeit und dem Kampf gegen den Kolonialismus widerstanden. Es widerstand der | |
| Entwurzlung der Afrikaner, die als Sklaven nach Amerika verschleppt wurden. | |
| Das kollektive Gedächtnis war so stark , dass katholische Heilige mit den | |
| Orishas, den Gottheiten der Yoruba verschmolzen. | |
| Der Islam auf dem afrikanischen Kontinent ist nicht der gleiche wie der | |
| Islam in Saudi-Arabien oder im Iran. Mali ist ein sehr aufschlussreiches | |
| Beispiel. Die malischen Rebellen, die al-Qaida erst willkommen hießen, | |
| wandten sich schnell gegen ihre Verbündeten. | |
| Sie waren und sind Muslime, aber ihr Glaube war durch afrikanische | |
| Vorstellungen und Werte geformt, die der al-Qaida-geprägten Strömung des | |
| Islam völlig entgegenstanden. Und zwar lange bevor westafrikanische Länder | |
| und Frankreich den Angriff auf die extremistischen Rekruten von al-Dine und | |
| andere wagten. | |
| Schlecht bewaffnet, wie sie waren, hatten die Bewohner von Nordmali | |
| begonnen, gegen die Muslime von Boko Haram und ihre fremden Missionare zu | |
| kämpfen. Schauen Sie nach Nordnigeria und Sie sehen das gleiche Szenario. | |
| Muslime bilden den harten Kern gegen Boko Haram, nicht Christen. Beide | |
| Gruppen aber bezahlen weiterhin den Preis für ihren Widerstand. | |
| Was wäre Ihre Philosophie, Ihr Traum oder Albtraum für die afrikanische | |
| Zukunft der nächsten 20 bis 30 Jahre? | |
| Traum? Der ändert sich mit der Richtung, aus der der Wind kommt – gerade | |
| jetzt, vielleicht unvermeidbar, von einem Kontinent, in dem Religion wieder | |
| strikt zu einer Privatangelegenheit wird. Gelegentlich träume ich auch von | |
| afrikanischen Wissenschaftlern, die eine große Rakete bauen, in die alle | |
| Fundamentalisten und religiösen Fanatiker gestopft werden und die dann in | |
| den Weltraum geschossen würde: definitiv ohne Rückkehr. | |
| Ökonomie, Politik, religiöse Systeme: Was denken Sie als Nobelpreisträger | |
| der Literatur über die Rolle der Literatur im Spiel der Kräfte. | |
| Dokumentation? Kassandrarufe? Prinzip Hoffnung? | |
| Vor allem Kassandra, leider. Wie oft denke ich in manischen Momenten des | |
| Optimismus wehmütig an Shelleys wunderbare Erklärung: „Dichter sind die | |
| nicht anerkannten Gesetzgeber der Welt.“ Würde er heute noch leben, nach | |
| zwei Weltkriegen, nach Ruanda, nach Chibok, er würde nur noch seufzen: | |
| „Schriftsteller sollten, wie Kinder, gesehen und nicht gehört werden.“ | |
| 30 Jul 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Wertheimer | |
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