# taz.de -- Debatte Gaza-Krieg: Logik der Gewalt | |
> Zum ersten Mal ist die Mehrheit der Israelis für eine Bodenoffensive. Was | |
> im Gazastreifen geschieht, wird als Bekämpfung eines unerbittlichen | |
> Feindes wahrgenommen. | |
Bild: Iron Dome: Zu sicher für den Frieden? | |
Als eines der paradoxen Resultate der bisherigen Kriegsdynamik im | |
Gazastreifen darf gelten, dass Israels Premier Benjamin Netanjahu und | |
Verteidigungsminister Mosche Jaalon, gemeinhin als rechtsgerichtete | |
Hardliner der israelischen Politik angesehen, plötzlich als moderate, | |
besonnene Politiker erscheinen. | |
Netanjahu hat den gegenwärtigen Waffengang eigentlich nicht gewollt, | |
obgleich er die Vorbedingungen für seinen Ausbruch aktiv und dezidiert | |
mitkreierte, indem er die Wochen der Suche nach den entführten israelischen | |
Jugendlichen im Vorfeld des Krieges nutzte, um die Infrastruktur der Hamas | |
im Westjordanland von Grund auf zu demontieren. | |
Dabei wurde ziemlich bald nach der Entführung dem Geheimdienst und somit | |
auch der Regierungsspitze klar, dass die Entführten nicht mehr am Leben | |
sind. Die Möglichkeit, die Hamas anzugehen und die zuvor mühsam zustande | |
gekommene Koalition der verfeindeten palästinensischen Seiten in Bedrängnis | |
zu bringen, nutzten Netanjahu und Jaalon weidlich aus. Nichts kam ihnen | |
mehr zupass. | |
Dadurch geriet die Hamas in eine Profilierungsnot, was den Dauerbeschuss | |
von Israels Süden mit Kassam-Raketen zur Folge hatte, der wiederum Israel | |
zum Waffengang trieb, an dem jedoch Netanjahu, wie gesagt, nicht | |
interessiert war. Er wartete ab, zeigte beachtliche politische Langmut so | |
lange, bis es nicht mehr ging und er die Armee in Stellung bringen ließ. | |
## Neue strategische Bedrohung | |
Da das Kräfteverhältnis zwischen der IDF und der Hamas überhaupt keinen | |
ernst zu nehmenden Vergleich zulässt, hat man sich über die Jahre an ein | |
Grundmuster gewöhnt: Aus welchem Anlass auch immer beschießen die | |
Gazapalästinenser Israels Städte mit Raketen, deren Reichweite von einem | |
Gewaltausbruch zum anderen zunimmt; die israelische Luftwaffe startet | |
massivste Bombardements, die viele Todesopfer fordern und immensen | |
Sachschaden anrichten. | |
Beim diesmaligen Waffengang wurde aber der Schreck- und Schadenseffekt der | |
Hamas-Raketen durch ein besonders effizientes Abwehrsystem der israelischen | |
Armee weitgehend neutralisiert. Gleichzeitig sah man sich mit einer neuen | |
strategischen Bedrohung konfrontiert, über die man zwar schon seit Jahren | |
unterrichtet war, aber deren Ausmaß man offenbar falsch eingeschätzt hatte: | |
einem weit verzweigten Tunnelsystem, das den Hamas-Kämpfern den Zugang bis | |
an den Rand israelischer Orte jenseits der Grenze ermöglichte. | |
Nicht nur hätten viele Bewohner dieser Orte eine gleichsam „aus dem Nichts“ | |
über sie hereinbrechende feindliche Attacke mit ihrem Leben bezahlen | |
müssen, sondern es wäre den Hamas-Freischärlern möglich geworden, ganze | |
Familien als Geiseln mitzunehmen. So jedenfalls stellte sich das | |
Horrorszenario in der israelischen Kriegsberichterstattung dar. | |
Das Zusammenwirken des Schocks über Ausmaß und Tragweite des Tunnelsystems, | |
der Verstärkung dieser unterirdisch generierten Gefahr in den Medien und im | |
polemischen Politdiskurs sowie der Notwendigkeit, auf diese neue Bedrohung | |
militärisch adäquat zu reagieren, zeitigte den Entschluss, vor dem sich | |
politisch verantwortliche Instanzen in Israels Kriegen (im Gazastreifen und | |
im Libanon) stets fürchten: eine Bodenoffensive zu starten. | |
## Trotz Übermacht keine eindeutigen Siege | |
Denn allen ist klar, dass derlei Kriege nicht aus der Luft, sondern, wenn | |
überhaupt, einzig vom Boden aus entschieden werden können. Bei | |
Bodenoffensiven aber fallen stets verhältnismäßig viele Soldaten, was in | |
Israel zu empfindlichen Reaktionen seitens der Bevölkerung und zu einem | |
entsprechenden Zögern der politischen Entscheidungsträger führt, dies umso | |
mehr, als das Militär bei den Waffengängen der letzten Jahre trotz großer | |
Übermacht keine eindeutigen Kurzer-Prozess-Siege, wie sie der grandiose | |
Ausgang des 1967er Krieges in die Erwartungsmatrix der Bevölkerung | |
eingeprägt hat, aufweisen kann. | |
Warum ist das diesmal anders? Warum hat eine überwältigende Mehrheit der | |
Bevölkerung die Bodenoffensive positiv aufgenommen? Warum haben (nach | |
jüngsten Erhebungen) 85 Prozent gar darauf gedrängt, die gestartete | |
Offensive nicht durch einen Waffenstillstand frühzeitig zu unterbrechen, | |
sondern sie weiterzutreiben, bis „die Gefahr“ gebannt und „Ruhe“ an der | |
Hamas-Front endgültig einkehrt ist? Dies, wie gesagt, obwohl Netanjahu und | |
Jaalon ursprünglich gegen eine ausgeweitete Militäroperation waren (und | |
noch immer sind). | |
Mehrere Faktoren wirkten sich in dieser Entwicklung aus. Zum einen sieht | |
sich Netanjahu einer inneren politischen Front gegenüber: Nicht nur seine | |
rechtsradikalen Koalitionspartner Avigdor Lieberman und Naftali Bennett | |
drängen unentwegt auf Eskalation und militärische „Entscheidung“, sondern | |
auch der rechte Flügel seiner eigenen Partei hat merklich an Boden gewonnen | |
und betreibt eine offene Opposition gegen den Parteiführer und | |
Regierungschef. | |
Die Opponenten initiieren eigene Pressekonferenzen, und es kam sogar dazu, | |
dass Netanjahu seinen Vizeverteidigungsminister Danny Danon, mitten im | |
Krieg, entlassen hat. Netanjahu erscheint also moderat, weil er von | |
Kontrahenten aus der eigenen politischen Umgebung umringt ist, die ihn | |
allesamt rechts überholt haben. | |
## Skrupelloses Machtkalkül | |
Sie selbst folgen einem kalten politischen Machtkalkül: Sie machen | |
Netanjahu seine potenziellen Wähler streitig, indem sie deren friedens- und | |
araberfeindliches Ressentiment populistisch anheizen. Sie denken bereits in | |
Kategorien künftiger Wahlen und handeln skrupellos danach, indem sie | |
Netanjahu als entscheidungsunfähigen Zögerer ausweisen – und sich selbst | |
entsprechend als entschlussfreudige Aktionisten. | |
Die israelische Bevölkerung, längst ums nationale Stammesfeuer versammelt | |
und durch wochenlange ideologische Medienberieselung in ihrer | |
Reflexionsfähigkeit merklich geschwächt, äußert sich großteils gegen einen | |
Waffenstillstand und fordert eine Erweiterung der Militäroperation. | |
Zweierlei hat diese enthusiasmierte Attitüde gefördert. | |
Zum einen die Effizienz des israelischen Raketenabwehrsystems (Iron Dome), | |
die dazu führte, dass man sich durch den Raketenbeschuss weit weniger | |
bedroht wähnt als früher. Ein populärer makabrer Witz lautet: Für die | |
Friedensbereitschaft der Israelis sei der Iron Dome ein strategischer | |
Nachteil; man fühle sich zu sicher, um den Waffenstillstand gutzuheißen. | |
Zum anderen eröffnet die Dämonisierung des Tunnelsystems eine ganz neue | |
strategische Dimension des Kampfverhältnisses zwischen Israel und der | |
Hamas. Und was dämonisch erscheint, weil es die eigene Sicherheit in einer | |
bisher nicht bekannten, mithin unberechenbaren Weise bedroht, muss | |
vernichtet werden. Dies haben sich die israelische Regierung und das | |
Militär zum Ziel gemacht – und diesem Beschluss folgt eben auch die vox | |
populi inhumana, welche das medial angefachte Bedrohungsgefühl nachgerade | |
zum Fetisch hat gerinnen lassen. | |
## Der Tod von Zivilisten wird wegrationalisiert | |
Dass sich Netanjahu erlauben darf, die gewaltigen Bombardements ohne | |
gewichtigen oppositionellen Widerspruch noch zu intensivieren, nachdem die | |
Hamas sich aus eigenen machttaktischen Gründen einer „humanitären | |
Waffenruhe“ mehrmals widersetzt hat, hat seinen Grund darin, dass das, was | |
Israel im Gazastreifen anrichtet, von der israelischen Bevölkerung einzig | |
unter dem Aspekt der Bekämpfung eines unerbittlichen Feindes wahrgenommen | |
wird. | |
Dass dabei eine Unzahl von Zivilisten, unter ihnen viele Frauen und Kinder, | |
umkommen, wird damit wegrationalisiert, dass die Hamas diese als | |
„menschlichen Schutzschild“ verwendet, so, als befänden sich nicht auch die | |
Gebäude strategisch bedeutender Institutionen Israels mitten in Tel Aviv. | |
Die totale Blindheit für die Leiderfahrung der palästinensischen | |
Bevölkerung in ihrem gemarterten Landstreifen wird nicht nur damit | |
garantiert, dass man die Israelis erst gar nicht mit Dokumentationen und | |
Berichten darüber „belästigt“, wobei diese freilich auch wenig Interesse | |
bekunden, mit der von Israel verursachten Barbarei konfrontiert zu werden. | |
Die zynische Kälte wird erst gar nicht als solche wahrgenommen (man | |
unterhält ja die „moralischste Armee der Welt“), sondern damit | |
gerechtfertigt, dass die Gazapalästinenser sich ja nicht gegen die sie | |
unterdrückende Hamas-Regierung erhöben, so, als würden die Israelis, die | |
sich rühmen, „eine Villa im Dschungel“ zu sein, sich je einfallen lassen, | |
sich gegen ihre Regierungen zu empören, welche sich stets als | |
friedensunwillig erweisen. | |
Die Frage, warum die Regierung brachiale Gewalt gegen die Palästinenser im | |
Gazastreifen anwendet und diese überproportionale Anwendung der Gewalt von | |
der Bevölkerung Israels gutgeheißen und abgesegnet wird, braucht gar nicht | |
erst beantwortet zu werden. Allein die Fragestellung dürfte heute in Israel | |
bereits als antisemitisch gelten. | |
2 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Moshe Zuckermann | |
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