| # taz.de -- Kriegstagebuch aus dem Irak: Bagdad online | |
| > Facebook ist eine gute Quelle, um etwas über den Alltag im Irak zu | |
| > erfahren. Die Stimme des Krieges finden wir im Netz. Ein Update. | |
| Bild: Ein Milchverkäufer in Bagdad. | |
| Es ist [1][gut einen Monat her], dass ich mit unserer Frau in Bagdad | |
| gechattet habe. Zuletzt stand auf ihrer Facebook-Seite eine Nachricht, die | |
| sie von einer einheimischen Presseagentur übernommen hatte: „Eine | |
| vertrauliche Quelle aus dem Kommunikationsministerium teilte heute, | |
| Freitag, 13. Juni 2014, mit, dass das Ministerium die Internetprovider | |
| angewiesen hat, ihre Dienste in folgenden Städten und Regionen aus | |
| Sicherheitsgründen einzustellen: Bagdad, Dijala, Babylon und al-Anbar. In | |
| den südlichen Vororten von Bagdad (Mahmudija, Latifija, Sabaa Albur) sowie | |
| im Westen in al-Ghasalija, Abu Ghraib und Amirija. Darüber hinaus im ganzen | |
| Kreis um al-Karmah, östlich von Falludscha, und Musajjab und | |
| Dschurf-as-Sahr, zwei Orten nördlich von Babylon.“ Dann riss der Kontakt | |
| ab. | |
| Die meisten dieser Orte sind von Sunniten bewohnt. Was die Sicherheit | |
| betrifft, bilden sie die heißen, gefährlichen Zonen um Bagdad. Vermutlich | |
| dachte die Zentralregierung, sie könne durch die Unterbrechung oder | |
| Abschaltung des Internets die Verbreitung der Propaganda der islamistischen | |
| Bewegung Isis unterbinden. Vielleicht dachte sie auch, dass Isis in diesen | |
| Orten schlafende Zellen installiert habe, die sie über das Internet wecken | |
| wollte. Wie auch immer. Allein die Maßnahme der Abschaltung des Internets | |
| wirkt im 21. Jahrhundert, im Jahrhundert der Kommunikationstechnologie, | |
| absurd. | |
| Abgesehen von den Möglichkeiten, derartige Sperren zu umgehen, die Isis | |
| ebenso gut beherrscht, wie es ihr gelingt, eine hoch gerüstete irakische | |
| Armee in die Flucht zu schlagen – warum sollte diese staatliche | |
| Internetkontrolle nicht etwas anderes beabsichtigen? Könnte es nicht viel | |
| eher sein, dass die Regierung große Sorgen um ihre Glaubwürdigkeit hat? | |
| Meldet ihre Propaganda doch jeden Tag, dass sie Herr der Lage sei, dass | |
| ihre Armee vor Mossul, vor Tikrit stehe und kurz davor sei, diese Städte | |
| zurückzuerobern. Die Realität erzählt etwas anderes, und die Isis-Kämpfer | |
| dokumentieren ihre Siege jeden Tag im Internet. Allen Abschaltungen zum | |
| Hohn. | |
| Vermutlich lebt unsere Freundin in der Nähe einer der Zonen in Bagdad, die | |
| von der Internetsperrung betroffen sind. Über eine Woche lang habe ich | |
| nichts von ihr im Netz gefunden. Dann, ab dem 23. Juni, tauchten wieder | |
| Meldungen von ihr auf. | |
| ## Wir haben eure Ausreden satt | |
| Posting Nummer 1: Ihr Politiker des Irak, verehrte Regierung! Wir haben | |
| eure Ausreden satt, warum ihr nicht in der Lage seid, uns zu verteidigen. | |
| Immer erzählt ihr uns von taktischen Rückzügen. Ich befürchte, dass wir | |
| eines Tages aufstehen und feststellen werden, dass ihr euch zurückgezogen | |
| habt. Nach Teheran. Natürlich „taktisch“. Und dann werden wir die Fakten | |
| sehen. | |
| Posting Nummer 2: Es gibt Standhaftigkeit in unserem Land! Im Schatten der | |
| permanenten taktischen Rückzüge, die der militärische Regierungssprecher | |
| Kasim Atta (den nennt man heute den neuen as-Sahhaf, Comical Ali. As-Sahhaf | |
| wurde während des dritten Golfkriegs bekannt. Grund waren vor allem seine | |
| abwegigen und völlig unglaubwürdigen Propagandaaussagen! N. W.) ständig | |
| verkündet und mit denen er die Einnahme unserer Städte erläutert, kämpft | |
| der Gouverneur von Tikrit. Zwei Wochen nach der Einnahme seiner Stadt durch | |
| Isis kämpft er in Samarra zusammen mit der Armee. Manchmal führt er die | |
| Operationen sogar selbst. Wir brauchen mehr solche tapfere Leute unter | |
| unseren Politikern! | |
| Posting Nummer 3: Isis macht Fortschritte. Sie eroberten drei Städte, und | |
| die vierte werden sie bald einnehmen. Die Regierung zieht sich zurück. Die | |
| Militärführer geben auf. Und unsere Medien reden weiter von taktischen | |
| Rückzügen. Das erste Mal in meinem Leben erfahre ich von so viel | |
| hochkarätiger Taktik! | |
| Das letzte Posting veranlasste mich, sie zu fragen, woher sie diese | |
| Informationen vom Vormarsch der Isis habe. Ich schrieb sie an, schrieb | |
| zunächst, dass ich glücklich sei über unser neuerliches Cyber-Treffen, | |
| fragte, wie es ihr gehe. | |
| ## Die Milizen vermehren sich wie Pilze | |
| Sie: Willkommen, Schriftstellerchen. Die Lage verspricht nichts Gutes. | |
| Keiner glaubt die Nachrichten. Isis breitet sich um Bagdad herum aus. Die | |
| Milizen vermehren sich in den Stadtteilen von Bagdad wie die Pilze. Die | |
| Leute haben Angst, und sie hören immer mehr auf Gerüchte. | |
| Wali: Die Nachrichten, die du über Isis verbreitest, haben die mit den | |
| Gerüchten zu tun? | |
| Sie: Nein, das sind zwei verschiedene Sachen. Auf einer Seite vermehren | |
| sich die Gerüchte mit der Zunahme der Gefechte, der Gefechte zwischen den | |
| irakischen Streitkräften und Isis. Die Gerüchte beeinflussen natürlich die | |
| Stimmung der Menschen, erschweren ihren Alltag. Auf der anderen Seite sind | |
| Tausende Flüchtlinge in der Stadt angekommen. Hunderte Familien, deren | |
| Städte und Dörfer von Isis eingenommen wurden. Diese Leute erzählen | |
| Horrorgeschichten. | |
| Wali: Wie ist die Lage in Bagdad? Wie sieht Bagdad jetzt aus? | |
| Sie: Was auffällt in diesen Tagen, ist, dass die Märkte und Straßen nicht | |
| mehr voll sind. Die Sicherheitskräfte sind stark präsent in den | |
| Hauptstraßen, aber auch an bestimmten Checkpoints. | |
| Wali: Na, wenigstens etwas Gutes. Keine Staus mehr. | |
| Sie: Ja, Bagdad hat keine Staus mehr. Keinen Stop-and-go-Verkehr, die | |
| Checkpoints sind durchlässiger geworden. Auf den Gehsteigen morgens und auf | |
| den Märkten herrscht eine ungewöhnlich ruhige Atmosphäre. Die Geschäfte und | |
| die Straßenverkäufer machen ihr Business. Aber mittags, natürlich auch | |
| wegen der Hitze, sind die Straßen leer. Gestern fragte ich einen Händler in | |
| Sinak Area, in Rusafa, nach der Lage. Und warum es so ruhig ist. Er sagte | |
| mir: „Gott schütze uns! Viele Straßenverkäufer sind Ali al-Sistanis Aufruf | |
| gefolgt und haben sich als Freiwillige gemeldet. Ich würde das auch gerne | |
| tun, aber ich bin zuckerkrank. Ich kann nicht so lange stehen. Gott | |
| verfluche Isis. Wir haben alle Kriege satt!“ Auffällig waren in den | |
| vergangenen Tagen auch Militärparaden auf den Hauptstraßen der prominenten | |
| Stadtteile wie Sadr City, die von den Milizen veranstaltet werden. | |
| ## Tapfere Mädchen | |
| Wali: Wie ist die Lage abends? | |
| Sie: Abends leeren sich die Straßen vor 22 Uhr. Die meisten Gespräche | |
| kreisen um Isis und um die freiwilligen Soldaten, die sich melden. Dank der | |
| Weltmeisterschaft vergnügen wenigsten die jungen Leute sich mit | |
| Sportnachrichten. Aber die heißen Gespräche drehen sich um die Ereignisse | |
| in den vier Städten Mossul, Tikrit, Dijala und al-Anbar. Insbesondere | |
| Mossul. | |
| Bevor ich meine nächste Frage posten konnte, schrieb sie weiter: | |
| Ich werde dir eine interessante Geschichte erzählen, Schriftstellerchen. | |
| Neulich saß eine Frau neben mir in einem Kia-Sammelbus und redete vor sich | |
| hin. Plötzlich verstummte sie, schaute ein Mädchen an, deren Aussehen sie | |
| offenbar bewunderte, und sagte zu ihr: „Ich schwöre bei Gott, du bist | |
| tapfer, Mädchen. Du läufst in einem modernen Kleid in diesem Chaos. Du bist | |
| so hübsch. Hast du keine Angst?“ Das Mädchen hat nicht geantwortet, also | |
| redete die Frau einfach weiter. Sie sagte: „Wir werden mit einem Problem | |
| fertig, aber dann kommt schon wieder ein neues. Aber ich schwöre bei Gott, | |
| mir ist die Schönheit dieses Mädchens lieber als die hässlichen Gesichter | |
| von Isis. Woher kommen die? Wer hat sie zu uns geschickt? Meine Kinder | |
| können nicht mehr schlafen. Sie haben Angst. Vor Monstern mit Gewehren und | |
| Patronengurten und Fahnen. Und die Händler haben die Lebensmittelpreise | |
| erhöht. Eine Eierpackung kostet jetzt 6.000 Dinar! Bevor Isis gekommen ist, | |
| waren es nicht mehr als 3.000 Dinar. Und jetzt sagt man, dass es bald kein | |
| Gas mehr gibt. Isis will, dass wir auf Holz kochen. Jetzt habe ich Angst, | |
| dass auch die Gemüsepreise steigen!“ Dann lachte sie plötzlich laut auf und | |
| rief: „Ich schwöre Gott, wenn die Tomaten auch noch teurer werden, dann | |
| werde ich verrückt. Und dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mich | |
| freiwillig zu melden und gegen Isis zu kämpfen. Ich liebe Mossul. Und es | |
| geht nicht, was die dort mit uns machen!“ | |
| Wali: Das klingt alles sehr surreal. | |
| Bald danach brach die Unterhaltung ab. Technische Störung? Man ist nie | |
| sicher in Irak! | |
| 3 Aug 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kriegstagebuch-aus-dem-Irak/!140620/ | |
| ## TAGS | |
| „Islamischer Staat“ (IS) | |
| Irak | |
| Milizen | |
| Bagdad | |
| Schwerpunkt Meta | |
| Bagdad | |
| Irak | |
| „Islamischer Staat“ (IS) | |
| Irak | |
| Barack Obama | |
| Irak | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kriegstagebuch aus dem Irak: „Der Kampf wird richtig global“ | |
| Isis ist nicht die einzige mordende Miliz im Irak und die Golfstaaten | |
| mischen eifrig mit: dritter Teil eines Austauschs über Facebook. | |
| Dschihadisten und Nationalisten im Irak: Eine unheilige Allianz | |
| Was die Terrorgruppe IS erfolgreich macht, ist ihre Zusammenarbeit mit | |
| Saddam-Anhängern und Baathisten. Das ist zugleich ihre Schwäche. | |
| Terrorgruppe „Islamischer Staat“ im Irak: Iraks Regierung schickt Luftwaffe | |
| Die kurdische Bevölkerung im Nordirak soll Unterstützung aus Bagdad | |
| bekommen. Die Dschihadisten des IS kämpfen gleichzeitig gegen | |
| Zentralregierung und Kurden. | |
| Krise im Irak: Panische Massenflucht vor Islamisten | |
| Rund 200.000 Menschen fliehen vor der Terrorgruppe „Islamischer Staat“. | |
| Teilweise brach Chaos aus. Die Lufthansa verlängert ihr Flugverbot für den | |
| Bereich. | |
| Kommentar US-Außenpolitik: Führung? Vergiss es! | |
| Präsident Barack Obama hat keine Vorstellung davon, wie eine Führungsrolle | |
| der USA ohne Militäreinsätze aussehen könnte. | |
| „Islamischer Staat“ im Irak: Widerstand gegen die Besatzer | |
| Im Nord- und Westirak formiert sich Widerstand gegen die Dschihadisten. | |
| Selbst einstige Verbündete wehren sich. Ein Grund dafür ist die Zerstörung | |
| von Heiligtümern. | |
| Islamischer Staat (IS): Islamisten vertreiben syrische Armee | |
| In Syrien sollen IS-Kämpfer einen wichtigen Militärstützpunkt eingenommen | |
| haben. Mindestens 85 Soldaten sollen getötet worden sein. |