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# taz.de -- Nachrichten von 1914 – 4. August: „Ist noch Hoffnung?“
> Die Nachricht von der Mobilmachung machte die eh schon ernsten Berliner
> noch sorgenvoller. Szenen aus einer Stadt zwischen Alltag und
> Kriegsbeginn.
Bild: Soldaten ziehen von Berlin aus Richtung Krieg.
Man hatte die Morgenblätter gelesen und sagte sich - trotz des Ernstes der
Nachrichten – befriedigt: also noch nicht ... noch nicht der Krieg, nur
Mobilmachung. Und geht seines Weges. In dem Zigarrenladen an der Ecke ist
die junge Frau des Besitzers tätig. Eine Ausnahme. Sie ist sonst nur in den
Mittagsstunden hier. Sie fühlt sich in dem Laden sicher nicht wohl. Sie ist
stets verlegen, bedient mit zum Boden gesenkten Blicken und spricht mit den
Kunden kein überflüssiges Wort. Heute aber hebt sie die Blicke vom Boden
und man sieht: sie möchte gern sprechen, sich aussprechen. Und dann erzählt
sie abgerissen: ihr Mann, der dem ersten Aufgebot der Landwehr angehört,
ist gegangen, sich anzumelden.
Und dann erzählt sie weiter: er ist so aufgeregt und sie hat Kopfschmerz
und sie, die Scheue, Schüchterne, Schweigsame spricht weiter und da ich
gehe, wird ihr Blick bittend. Sie kann nicht allein sein, will reden,
reden, um ihren Gedanken zu entfliehen ... Und seltsam: irgendeine
Verwandlung ist mit jedem, dem man auf der Straße begegnet, hervorgegangen.
Alle diese Typen und Schichten, die sonst so darauf erpicht sind „Eindruck
zu schinden“, sind einfacher, natürlicher geworden. Alle, die sonst so
abweisend und hochmütig dreinblicken, haben jetzt diesen fragenden und
redseligen Blick. Man besteigt die Stadtbahn. Kaum, daß man sitzt, gleitet
schon dieser forschende Blick des Gegenübers zu einem herüber und dann die
Frage: „Na, glauben Sie, daß noch Hoffnung ist?...“
Vormittags, Unter den Linden. Ein Menschengewirre. Aber so seltsam still
ist es. Ganz ungewöhnlich stille. Die Leute sind eben hierher gekommen, um
zu fragen, nicht um zu sprechen. Und all diese Tausende fragen schweigend,
fragen bloß mit den Augen: „Geht's los?“ fragen die einen. Aber die meisten
fragen: „Ist noch Hoffnung?“ Und selbst die Backfische, die sonst unbedingt
kichern und tuscheln müssen, gehen Arm in Arm schweigend dahin, auch sie
erfaßt der Ernst der Stunde.
Vor der russischen Botschaft Unter den Linden. An allen Fenstern sind
Rouleaux herabgelassen. Vor dem Gebäude ein Massenaufgebot von
Schutzleuten, die jegliche Ansammung verhindern. In das Gebäude werden nur
Russen eingelassen, Leute, die ihre Pässe holen, Hunderte und Aberhunderte,
die das Schicksal jetzt aus dem Lande treibt. Da gegen elf Uhr, die ersten
Extrablätter. Die Russen haben die Ostgrenze überschritten. Jetzt ist es
da! Das ist der Krieg. Aber kein Hurraruf ertönt. Die Masse ist zu ernst,
viel zu ernst.
Sie fühlt die Wucht der Ereignisse, fühlt daß er jetzt wirklich vor der
Türe steht, der Grausame, der Blutige, der Schreckbringende, der Krieg.
Kein Hurraruf, aber auch kein Erschrecken. Es ist nicht zu leugnen. Diese
Menschen da werden in ihrer Haltung noch einfacher. Die Offiziere haben
nichts mehr von ihrer Alltagsforschheit. In dieser Hinsicht ist der Ernst
der Stunde doch ein großer Gleichmacher. Und von diesem Augenblick der
Gewissheit an, nimmt alles eine andere Gestalt an. Ich weiß nicht, ob es
anderen auch so ergangen ist: aber diese dahinlaufenden Automobile wirken
unheimlich. Wie ein Jagen um Leben und Tod wirken sie. Halb wie ein
"Rettet, was gerettet werden kann!", halb wie ein "Auf die Schanzen!" Sie
jagen, stürmen, rasen dahin. Und dazwischen diese dumpfe, stöhnende
„Töff-Töff“. Wie eine Attacke wirkt es, wie ein wildes Losstürmen und
dieses „Töff-Töff“ wie ein Stöhnen ...
Nachmittags fünf Uhr. Das zweite Extrablatt. Die ernsteren Nachrichten. Und
diese zahllose, diese gewaltige Menschenmasse, sie wird noch ernster, noch
ruhiger. Hoch über ganz Deutschland erhebt sich der drohende Zeigefinger
des Knochenmannes ... Wie belebt ist der Tiergarten und doch wie stille!
Über einige Lippen gleitet jetzt ein Lächeln. Sie sehen eine Szene, die wie
eine Idylle, aber in diesem Augenblick doch ein wenig komisch wirkt. Ein
stattlicher Mann schiebt einen Kinderwagen, in dem ein Kindchen sitzt,
dahin. Am Mobilmachungs-Sonntag! Die Leute lächeln. Aber der Mann bemerkt
das gar nicht. Er blickt ernst, todernst, auf das Kind nieder. Das Kind
strampelt mit den Füßen und lacht, aber der Mann bleibt ernst. Vielleicht
hat das Kind schon die Mutter verloren und macht jetzt den letzten
Spaziergang mit dem Vater. Aber die Leute lächeln über diese Idylle,
während in Ost und West der Knochenmann die Sense schleift ...
Ein junges Paar, vor einem Blumenhändler. Er will ihr einen Straß Veilchen
kaufen: „Laß, Fritz,“ sagt sie, „Du wirst das Geld brauchen, wenn Du Mor…
in Krieg sollst.“ „Aber es ist doch nur ein Groschen.“ „Du wirst auch d…
Groschen brauchen!“ Und schweigend gehen sie weiter.
Um 9 Uhr abends in der Stadtbahn. Ich steige am Zoo ein. Im Abteil sitzen
ein alter Mann mit Knebelbart, an seiner Seite ein Soldat in Felduniform.
Der Junge blickt schweigend vor sich hin. Der Alte blickt schweigend auf
den Jungen. Kein Wort sprechen sie. Da gleitet die Hand des Alten nach der
Rechten des Jungen und preßt sie. Der Junge fährt zusammen, blickt den
Alten an, will lächeln, kann es nicht und blickt rasch zum Fenster hinaus.
Der Vater fragt: „Ja, also auf den Bahnsteig kann ich nicht mitkommen?“ Der
Junge antwortet, ohne den Blick auf den Vater zu richten: „Ausgeschlossen.
Man läßt Dich nicht!“ Der Alte seufzt auf. Leise streichelt er die Hand des
Jungen. Und der blickt krampfhaft durch das Fenster hinaus.
Bei der Einfahrt in den Lehrter Bahnhof erheben sich beide und steigen aus.
Ich folge ihnen. Der Alte presst die Lippen aneinander. Man sieht, er kann
sich nicht mehr beherrschen. Jetzt faßt er die Hand des Jungen und sagt
leise: „Mein lieber Junge, was soll ich Dir sagen ...“ Seine Lippen,
Augenlider, Wangen zucken. Da schlägt er dem Jungen auf die Schulter, ruft:
„Laß Dir's gut gehen, Junge!“ und läuft fort, ohne Kuß, ohne Händedruck,
ohne sich umzuwenden. Läuft fort, um in irgend einer Ecke zu weinen. Der
Junge blickt ihm starr, krampfhaft nach und richtet sich dann auf und geht
nach dem Fernbahnhof, in den Krieg ...
Quelle: Berliner Tageblatt
4 Aug 2014
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