# taz.de -- Nachrichten von 1914 – 12. August: „Wir müssen siegen“ | |
> „Es geht um nicht weniger als die Existenz Deutschlands. Es geht sogar um | |
> noch mehr: Siegt der Russe, siegt die Unkultur über die Kultur. Deswegen | |
> müssen wir siegen.“ | |
Bild: Waffen für die Front. | |
So furchtbar ernst, ja, wenn man bloß nach der Zahl der Gegner urteilen | |
wollte, so ungeheuer schwer war für Deutschland kaum je eine Situation. Den | |
rund 121 Millionen Menschen Deutschlands und Österreich-Ungerns steht genau | |
die doppelte Zahl in Russland, Frankreich, Belgien, Serbien, Montenegro und | |
dem englischen Mutterland gegenüber. Und doch - so gewaltig die Aufgabe | |
ist, sich dieser Übermacht zu erwehren, ihr nicht zu unterliegen - mit | |
festem Vertrauen, man kann fast sagen: mit dem Gefühl der Sicherheit gehen | |
Deutschland und Österreich-Ungarn in diesen gewaltigsten Völkerkampf aller | |
Zeiten. | |
Wir müssen siegen, das ist die allgemeine Losung; wir müssen siegen, um | |
unser Dasein zu erhalten. Nicht bloß die Kämpfer, auch für unser Vaterland | |
handelt es sich um Leben oder Sterben; darum, ob wir unsere Kulturaufgaben | |
noch im Rahmen eines selbständigen Staates erfüllen können oder bloß noch | |
ein verstümmelter geographischer Begriff sind, über den Russland die Knute | |
schwingt. Wir müssen siegen, wenn nicht die Kultur, der Fortschritt von | |
Geist und Freiheit unheilbaren Schaden erleiden soll. | |
Siegen wir nicht, so siegt nicht England, nicht Frankreich, sondern siegen | |
die echtrussischen Leute, die fanatischen Vertreter wüstester Reaktion, | |
unduldsamsten Terrorismus, feiger Korruption; dann verschließt sich | |
Russland auch für die Zukunft der Bahn des Fortschritts, dann kann es | |
wehklagen: "Weh mir, ich hab gesiegt!" Die Niederlage, die es im | |
japanischen Krieg erlitten, war der Anstoss zu dem Versuch, aus der alten | |
inneren Knechtschaft heraus zu kommen. Aber das europäische Russland hatte | |
den Schrecken der Niederlagen zu wenig am eigenen Leibe gespürt; zu fern | |
hatten sie sich abgespielt; deshalb wurde die Reaktion wieder mächtig. | |
Eine gewaltige Niederlage im eigenen europäischen Land würde den | |
Zusammenbruch des Systems nach sich ziehen, unter dem es so furchtbar | |
gelitten hat und leidet; diese Systems, das allein die Schuld an diesem | |
entsetzlichen Kriege trägt. Wir müssen siegen, denn solange der vom | |
Größenwahn besessene [1][Panslawismus] [2][dräuend] sein Haupt erhebt, so | |
lange gibt es keine Sicherheit des Friedens in Europa; so lange müssen | |
seine Völker die Last der ständig wachsenden Rüstungen tragen, muss Europa | |
sein führende Stellung abtreten an Amerika, das ständig an Wohlstand | |
voraneilt, weil es diese Last nicht auf sich zu nehmen braucht. Nicht | |
bewahrheitet hat sich das Wort, dass die Rüstungsausgaben die | |
Versicherungsprämie seien, um den Frieden zu bewahren, dass die Bündnisse | |
der Staaten ihn erhalten. | |
Ein unentrinnbares Verhängnis zwingt friedliebende Völker, wie das deutsche | |
und das französische, zu diesem Kriege, den zu vermeiden, beide eifrig | |
bestrebt waren. Hatte doch Frankreich durch seine letzten Wahlen bewiesen, | |
dass es ernstlich den Frieden wolle. So sehr man das französische Volk | |
bedauern kann, so unbedingt müssen wir siegen, denn es kämpft leider für | |
die Unkultur gegen die Kultur, für die Reaktion gegen den Fortschritt, für | |
die Knechtschaft gegen die Freiheit, für die Herrschaft der Knute gegen die | |
von Gesetz und Ordnung. An der Tatsache, dass die Elsass-Lothringer sich | |
willig in die Reihen unserer Kämpfer stellen, muss Frankreich sehen, dass | |
sie gar nicht den Wunsch haben, wieder Franzosen zu werden, dass damit auch | |
der Schein der "moralischen Verpflichtung" entfällt, die "gefangenen | |
Brüder" zu befreien. | |
Dieser Krieg, in dem wir, wenn wir auch noch so siegreich sind, nicht einen | |
Fußbreit französischen oder sonstigen Bodens und aneignen werden, muss den | |
Franzosen die Überzeugung bringen, dass es von Deutschland nichts zu | |
fürchten hat; dass es keine Bündnisse braucht, sich vor ihm zu schützen. | |
Und wie mit dem Krieg von 1866 der Gegensatz zwischen Österreich und | |
Preußen aufgehört hat, so möge aus der blutigen Saat dieses Krieges ein | |
vertrauenvolles, friedliches Verhältnis zwischen den beiden Völkern | |
erwachsen, die für den Fortschritt der Menschheit, jedes in seiner Art, so | |
viel geleistet haben! Wir müssen siegen, um dem sittlichen Bewusstsein in | |
der Welt zum Siege zu verhelfen, das schwer erschüttert würde, wenn die | |
russische Frivolität und Kriegshetze triumphierte. | |
Es ist für das deutsche Volk hart, einen Krieg führen zu müssen, der ihm | |
auch im Fall des glänzendsten Sieges nur das bringt, was wir vor ihm | |
besaßen. Wir wünschen keine Vermehrung von Land und Leuten, ja wir würden | |
es als ein Unglück erachten, wenn wir mehr fremdsprachige Bürger bekämen. | |
Wir geizen weder nach kriegerischem Ruhm, noch danach, der Welt Gesetze zu | |
diktieren. Wir wollen in Frieden unserer Arbeit nachgehen; nur zur | |
Verteidigung ergreifen wir die Waffen, zur Erhaltung unserer | |
Selbstständigkeit, unserer Kultur, unserer Ehre. Und wir werden siegen, | |
denn das ganze deutsch Volk, vom ersten bis zum letzten, ist fest davon | |
durchdrungen, dass wir siegen müssen. | |
Wir werden siegen - trotz der Minderzahl - nicht weil wir, soweit es das | |
Landheer angeht, unseren Gegner technisch überlegen sind, so wenig man die | |
Straffheit der Organisation, die Güte der Massen, das Maß der Ausbildung | |
unterschätzen soll. All das wird helfen. Aber die Hauptsache ist doch der | |
Geist, in dem wir kämpfen, und der unseren Gegnern fehlt. Man höre nur von | |
Augenzeugen, wie es in Russland auszieht, wo die unglücklichen zu den | |
Waffen Gerufenen im Branntwein Trost für ihr trauriges Geschick suchen, wo | |
der Feuerschein brennender Gebäude die schreckhaften Nächte durchleuchtet! | |
Wie in Polen der Aufruhr jeden Tag zu hellen Flammen aufzuschlagen droht, | |
wie die gleiche Stimmung in Finnland herrscht! | |
Wie die Arbeiterschaft der großen Städte und der freilich wenigen | |
Industriebezirke nur durch Bajonette niedergehalten wird! Und in | |
Frankreich! Was gäbe man dort darum wenn man nicht zu beachten brauchte! | |
Nicht aus eigener Kraft hofft man zu siegen, sondern man vertraut auf die | |
Hilfe der Bundesgenossen, des 133 Millionen Reiches Russland, das man im | |
tiefsten Innern doch als Land der Barbarei verachtet. Und nach dem | |
sensationellen Bericht des Senators Humbert hat man kein Vertrauen zur Güte | |
der eigenen Waffen. Wohl wird es auch dort an Kampfesmut nicht fehlen, den | |
Einfall des Gegners abzuwehren. Aber die Begeisterung fehlt für einen | |
Krieg, den das Volk nicht gewollt hat. | |
Und England! Der Krieg ist dort keine Sache des Herzens, sondern eine des | |
Geschäfts Sir Edward Greys, der hofft, die deutsche Flotte zu vernichten | |
und vielleicht einige unserer Kolonien einzustecken. Die besten Männer des | |
Kabinetts, ein Morley, ein Burns, sind scham- und schmerzerfüllt aus ihm | |
ausgeschieden: die Arbeiterpartei hat entrüstet gegen den Krieg | |
protestiert, die schämen sich, Deutschland in seinem ihm aufgedrungenen | |
Abwehrkampf in den Rücken zu fallen, sie schämen sich, in dem Kampf | |
zwischen Kultur und Unkultur auf der Seite der Barbaren zu stehen. Bei uns | |
dagegen in Volk, vom ersten bis zum letzten geeint und entschlossen, das | |
Vaterland zu verteidigen, es zu retten. Bei der Jugend eine Begeisterung, | |
die den Tod nichts achtet. | |
Kein schönerer Tod in der weiten Welt, Als wie vor'm Feind zu sterben. Bei | |
den Familienvätern das Gefühl, das ein vierzigjähriger Mann, dessen Frau | |
unmittelbar vor der Entbindung steht, in die Worte fasste: "Es wird mir | |
schwer, Frau und Kinder gerade jetzt zu verlassen, aber ehe die Bande bei | |
uns einbricht, nehme ich doch gern das Gewehr in die Hand." Diese Stimmung | |
beseelte auch den Reichstag, vergessen aller Parteizwist, ein einig Volk | |
von Brüdern; kein Sozi, kein Pole, kein Elsass-Lothringer, geschweige denn | |
Däne versagte, in dieser schweren Zeit eint die Not des Vaterlandes alle, | |
ist alle Unbill vergessen und diese Einigkeit Deutschlands hat | |
zurückgewirkt aus Österreich-Ungarn. | |
Was kein Mensch für möglich hielt: die Tschechen rufen: Hoch den Deutschen! | |
Die Deutschen: Razdar hoch! den Tschechen. Die große Schicksalsstunde siegt | |
über den Nationalitätenhader. Nur noch der edle Wettstreit, in der Hingabe | |
ans Vaterland nicht hinter dem anderen zurückzustehen. | |
Und deshalb: Wir müssen siegen, wir werden siegen. | |
Das ist nicht Wollen nur und Drang, | |
Das ist ein Müssen, ist ein Zwang. | |
Quelle: Berliner Tageblatt | |
12 Aug 2014 | |
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[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Panslawismus | |
[2] http://www.duden.de/rechtschreibung/drohen | |
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