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# taz.de -- Stadttour mit Wohnungslosen: Ausflug ins Reich der Armen
> Bahnhof Zoo statt Bundestag, Kleiderklappe statt Checkpoint Charlie: In
> Berlin führen Obdachlose durch die Stadt derer, die auf der Straße leben.
Bild: Tour zur Schattenseite der Hauptstadt: Wohnungslose zeigen Berlin.
Den Stadtführer für die Tour „Obdachlose zeigen ihr Berlin“ ausfindig zu
machen, ist gar nicht so einfach. Ist es der Typ in der zerrissenen Hose,
der laut im Berliner Dialekt mit seinem Hund spricht? Oder der dort auf der
schmuddeligen Decke, Bierflasche in der Hand, Pappbecher vor sich, der Kopf
tief gebeugt?
Stadtführer Carsten Voss trägt eine Anstecknadel des Projektträgers
„querstadtein“. Ohne die hätte ihn wohl keiner als Obdachlosen ausgemacht.
Die Blicke der Teilnehmer wandern an Voss hinauf. Rote Pumaschuhe, kurze
Khakihose, Jeanshemd, Ray-Ban-Brille. Der Mann ist frisch rasiert,
frisiert, lächelt. Er sieht aus, als würde er die Teilnehmer gleich mit auf
einen Segeltörn zum Wannsee nehmen.
Stattdessen will er die 20 Studenten, Sozialarbeiter und Senioren ins
Berlin der Wohnungslosen führen. Sie sind überrascht, denn Armut sieht
normalerweise anders aus. Aber anmerken lässt sich das kaum einer. Das
eigene Selbstbild lässt es schließlich nicht zu, Klischeevorstellungen von
Pennern zu haben.
## Altkleiderspende statt Container
Vor der größten Bahnhofsmission Deutschlands am Zoologischen Garten erklärt
Carsten Voss der Gruppe, wie man mit Obdachlosen umgeht. Erstens:
Pfandflaschen neben den Abfalleimer stellen, das erspart dem Sammler den
Griff in den Müll. Zweitens: Kleider nicht zum Container bringen, sondern
zur Altkleiderspende. Drittens: dem Obdachlosen nicht nur Geld, sondern
auch einen Blick in die Augen schenken.
11.000 Menschen in Berlin sind laut Senatsangaben wohnungslos, über 80
Prozent von ihnen sind Männer. Bis zu 4.000 Menschen schlafen jede Nacht
auf der Straße. Der Verein „Stadtsichten“ bietet seit vergangenem Sommer
die „querstadtein“-Touren mit Obdachlosen durch Schöneberg an.
Vor Kurzem ist noch ein zweiter Träger dazugekommen: Die „Gebewo“, die
Wohnungslose unterstützt, fährt Gruppen mit einem Bus durch Berlin-Mitte.
Für sie führen der ehemalige Obdachlose Klaus Seilwinder und ein Historiker
die Besucher durch die Stadt: Sozialschau statt Spreefahrt, Bahnhof Zoo
statt Bundestag, Kleiderklappe statt Checkpoint Charlie.
## Wer sind die Wohnungslosen?
Aber wer sind die Männer, die offen von ihrem Absturz in die unterste
Gesellschaftsschicht erzählen? Und wollen die Teilnehmer sich denen nähern,
die sie sonst ignorieren oder nicht anzusprechen wagen? Oder sind die
Touren voyeuristisch, entlassen sie die Teilnehmer mit dem Gefühl, es gut
getroffen zu haben?
Zwei junge Frauen, selbst in sozialen Berufen tätig, sind gekommen, „um
eine andere Perspektive auf die Stadt zu bekommen“; mit Obdachlosen sei man
in Berlin ja ständig konfrontiert, aber man wisse nichts über sie.
Befreundete Studenten machen mit, weil sie sonst immer auf Distanz zu den
Wohnungslosen gehen. Touristen aus anderen Städten sind nicht gekommen. In
seinem Urlaub beschäftigt man sich lieber mit der Sonnenseite einer Stadt.
Stadtführer Carsten Voss weiß, wie man Menschen lenkt, seine Stimme ist
klar, der Blick direkt, die Worte sind sorgfältig gewählt. Er ist ein
ungewöhnlicher Obdachloser, spricht von „Awareness“, wenn er Aufmerksamkeit
für die Armen fordert.
## Ein Friseur, der kostenlos Haare schneidet
Er erzählt, dass ein Friseur in der Gedächtniskirche kostenlos Haare
schneidet und dass in einem Supermarkt am Bahnhof Zoo ein Fernseher über
der Flaschenannahme hängt, weil dort die Schlange der Sammler am längsten
ist. Die Teilnehmer hören aufmerksam zu, aber sie bleiben auf Distanz.
Nachzufragen traut sich kaum einer.
Dann erzählt er selbst seine Geschichte: Voss, heute 55 Jahre alt, hat
einmal als Manager in der Modebranche gearbeitet. Zuletzt leitete er die
Berliner Messe Bread & Butter, 80-Stunden-Woche. Nach einem Burn-out schied
er aus seinem Job aus. Irgendwann sei das Geld ausgegangen, die Wohnung
zwangsgeräumt worden. Freunde und Familie habe er nicht um Hilfe bitten
wollen, vielleicht aus Scham, vielleicht aus Stolz.
Ein halbes Jahr zieht er in Berlin durch die Straßen. Auf der Straße
übernachtet er nie; da er sich weder betrinkt noch Drogen nimmt, kommt er
immer in einer Einrichtung unter. „Ich habe nicht gebettelt. Wenn ich Geld
brauchte, habe ich meine letzten Designerstücke oder mein iPhone verkauft.“
Was es bedeutet, zu frieren, zu hungern, angegafft zu werden, hat er nie
erfahren. Elitäres Elend.
Die Stadtführung eines Obdachlosen gibt also gar kein Obdachloser, sondern
ein ehemaliger. Er ist keiner, der sozial schwach geboren wurde, sondern
einer, der aus der gleichen Schicht kommt wie die Teilnehmer – aus der
scheinbar sicheren Schicht. Voss ist steil aufgestiegen und tief gefallen.
## Geschichten auf Nachfrage
Auch Kurt Seilwinder, Stadtführer auf der Tour der „Gebewo“, ist ein
ehemaliger Obdachloser. Er erzählt seine Geschichte nur auf Nachfrage. Sie
solle nicht im Mittelpunkt stehen. Auch hier traut sich keiner,
nachzufragen, als der kleine, dünne Mann in der viel zu großen Lederjacke
vor ihnen steht: Wie sind Sie auf der Straße gelandet? Auf der
Obdachlosentour bringt man den Mut, miteinander zu reden, anscheinend
ebenso wenig auf wie auf der Straße.
Als Erntehelfer hatte Seilwinder keinen festen Wohnsitz, 2002 verlor er
seinen Job. Es war Sommer, „also kann ich ja erst einmal auf der Straße
schlafen“, dachte er damals. Doch als der Winter kam, hatte sich an seiner
Situation nichts verändert. Es folgten sieben weitere Winter, bis ihn ein
Freund von der Straße holte. Seilwinder hat ein erwartbares, also ein
hartes Leben auf der Straße geführt. Manchmal lief er 40 Kilometer am Tag,
um Pfandflaschen zu sammeln, seine „Lebensgrundlage“, wie er es nennt. Noch
immer fällt sein Blick in jeden Mülleimer, den er passiert. „Routine“, sa…
der 57-Jährige.
Er führt über den Gendarmenmarkt und zeigt der Gruppe eine öffentliche
Gratistoilette. Hier wusch er sich notdürftig, um nicht zu verwahrlosen.
Das sei wichtig, erklärt er, nur wer nicht verwahrlost, fällt auch nicht
auf und kann sich unentdeckt durch die Stadt bewegen. Von den Leuten, die
hier Kaffee trinken, wurde er manchmal eingeladen. „Betteln habe ich nie
übers Herz gebracht.“ Er schlief auf Spielplätzen, Nazis verprügelten ihn,
bis die Polizei kam, viele Jahre betäubte sich Seilwinder mit Alkohol.
## Aus der Opferhaltung herausgetreten
Carsten Voss und Klaus Seilwinder sind die Obdachlosen, die aus ihrer
Opferhaltung herausgetreten und zum Sprachrohr geworden sind für
diejenigen, die in der Gesellschaft verstummt sind. Sie wollen Nähe
schaffen zwischen Lebenswelten, die ferner nicht sein könnten, die
Gesellschaft in Arm und Reich, in Verlierer und Gewinner gliedern.
Der Bus rollt durch die Stadtmitte und zu Einrichtungen der Gebewo, eine
Werbetour für den sozialen Träger. Hastig drehen sich die Bewohner weg,
wenn die Gruppe durch die Gänge spaziert. Beim Armsein hat eben keiner
gerne Zuschauer. Ein Historiker nimmt immer wieder das Wort, um die
Geschichte hinter der Armut Berlins zu erklären. Vielleicht ist es seine
Aufgabe, die Kluft zwischen Seilwinder und den Teilnehmern zu schließen.
Carsten Voss hat versucht, diese Lücke selbst zu schließen. Vor ein paar
Jahren war er in vielen Talkshows zu sehen, erzählte seine Geschichte
wieder und wieder. Ein Medienprofi also. Vor der Besuchergruppe erwähnt er
das nicht. „Die Führung ist meine Therapie“, sagt er stattdessen. Der
ehemalige Manager weiß, wie er sein Schicksal vermarkten kann.
Gut möglich, dass er das alles macht, um in seinem zweiten Leben zu helfen
– als Cheflobbyist für eine Gruppe, die kaum Fürsprecher hat. „Mich stört
der Medienandrang nicht, solange es dem sozialen Projekt guttut“, sagt Voss
den Journalisten. „Ich nehm ihm seine Geschichte schon ab“, sagt einer der
Studenten nach der Tour. Doch in seiner Aussage liegt bereits der Zweifel.
27 Aug 2014
## AUTOREN
Eva Lindner
## TAGS
Berlin
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London
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