| # taz.de -- Unterwegs auf dem Rio Grande: Grenzerkundung per Schlauchboot | |
| > Vor 9/11 war es kein Problem, am Rio Grande überzusetzen und die Nachbarn | |
| > in Mexiko zu besuchen. Doch seit dem Terroranschlag ist auch dort vieles | |
| > anders. | |
| Bild: Der Rio Grande im texanischen Nationalpark Big Bend. | |
| Es ist ein drückender Sommertag, an dem mein Jugendtraum endlich in | |
| Erfüllung geht: Heute werde ich per Boot den Rio Grande befahren, den | |
| legendären Strom in Texas, der durch den gleichnamigen Western mit John | |
| Wayne bekannt wurde. Hinter uns der staubige Highway, vor uns das Wasser | |
| und am Horizont nichts als rötliche Canyons: Genau so habe ich mir die | |
| Landschaft der Cowboys und Indianer vorgestellt. Die Fahrt kann losgehen. | |
| Unsere Bootsführerin Laura Omer stößt das Schlauchboot mit einem Ruder vom | |
| Ufer ab – und schon treiben wir über den Fluss. Grillen zirpen zwischen dem | |
| hochgewachsenen Büffelgras vor den Ufern, Geier kreisen über den | |
| Schluchten. Die Luft ist stickig, das Wasser warm und trüb. „Haltet euch | |
| gut fest, nur für den Fall, dass wir einen Felsen treffen“, ruft Laura. | |
| „Wir sind zwar nicht schnell, aber die Strömung ist stark!“ | |
| Der Rio Grande hat uns fest im Griff. Dabei ist der drittgrößte Fluss der | |
| USA nicht nur in der Filmgeschichte von Bedeutung, sondern auch in der | |
| Politik: In Texas bildet er die gemeinsame Grenze mit Mexiko. Eine Grenze, | |
| die als eine der gefährlichsten der Welt gilt. Hunderte illegale | |
| Einwanderer sterben jedes Jahr beim Versuch, sie zu überqueren. Im Big Bend | |
| Ranch State Park, 250 Meilen östlich der Grenzstädte El Paso und Juárez, | |
| gibt es aber weder Zaun noch Patrouillen der US Homeland Security. Nur die | |
| Naturschutzparks mit ihren Prärien und den Canyons. | |
| Plötzlich eine Erschütterung: „Wir haben einen Felsen getroffen, aber nicht | |
| so stark“, sagt Laura. „Manchmal ist es einfacher, sich von der Strömung um | |
| ein Hindernis herumtreiben zu lassen.“ Beim Wildwasser-Rafting kommt es | |
| darauf an, ganz sprichwörtlich im Fluss zu sein: „Du kannst da nicht alles | |
| perfekt planen – du musst die Dinge einfach geschehen lassen!“ | |
| Als wir den aus rötlichem Vulkangestein geformten Colorado Canyon | |
| erreichen, beruhigt sich der Fluss. Wir treiben mit unserem Schlauchboot an | |
| verlassenen Lehmhütten, Kakteen und Yuccapflanzen vorbei. Zeit zum | |
| Durchatmen. Das ist schließlich das Wichtigste auf einer Tour über den Rio | |
| Grande, sagt Laura: „Lass dich nicht stressen – das sage ich allen | |
| Besuchern. Die Landschaft hier ist so gigantisch. Lass das auf dich wirken, | |
| entspann dich und genieß es!“ | |
| Vor fünf Jahren hat die 32-jährige Laura Omer begonnen, als Riverguide zu | |
| arbeiten, wie sich die Bootsführer hier nennen. „Seit diesem Sommer mache | |
| ich das in Vollzeit und habe meinen Nebenjob in einem Restaurant | |
| gekündigt“, erzählt sie. Jede Woche führt sie nun Besucher über den Fluss. | |
| Die Wildwassertouren, auch White Water Rafting genannt, sind in dieser | |
| Region besonders beliebt. Aus den ganzen USA kommen Wassersportler dafür an | |
| den Rio Grande: „Es ist einer der wenigen Orte in den USA, wo du selbst im | |
| Winter auf dem Wasser sein kannst!“ | |
| Nach unserer anderthalbstündigen Tour legt sich die kühlende Dämmerung über | |
| die Prärie. Wir ziehen die Boote aus dem Wasser und fahren weiter nach | |
| Terlingua, einer nahe gelegenen Ortschaft vor dem benachbarten Big Bend | |
| National Park. | |
| Ende des 19. Jahrhunderts war Terlingua ein Zentrum des Bergbaus: In der | |
| kargen Steinwüste wurde das Quecksilbererz Zinnober gewonnen. Aus dieser | |
| Zeit sind allerdings nur noch Ruinen, Schutt und Geröll übrig geblieben: | |
| Nachdem die Minen geschlossen wurden, verwandelte sich Terlingua zu einer | |
| Geisterstadt. Seit den 60er-Jahren aber haben Hippies und Aussteiger die | |
| Gegend neu besiedelt. Die meisten Bewohner leben heute vom Tourismus, | |
| arbeiten als Riverguides, betreiben kleine Hotels oder Galerien. | |
| Der zentrale Treffpunkt am Abend ist das Starlight Theater, ein ehemaliges | |
| Kino, in dem sich heute eine Bar befindet. Von der Decke hängen | |
| Rinderschädel zwischen antiken Ventilatoren. Jeden Samstag wird im | |
| Starlight Theatre Livemusik gespielt. | |
| An der Bar treffe ich Cynta de Narvaez. Seit 1996 lebt sie in Terlingua. | |
| Ursprünglich kam sie in die Gegend, um als Riverguide zu arbeiten. Doch die | |
| 55-Jährige zog sich aus dem Geschäft zurück und betreibt heute eine | |
| Pension. Die Zeiten seien für Riverguides schwieriger geworden, sagt Cynta. | |
| Die Grenzschließung zu Mexiko schadet dem Tourismus. | |
| ## Frei bewegen | |
| „Ich habe mit den Bootstouren aufgehört, kurz bevor die Grenze geschlossen | |
| wurde“, erzählt sie. „Damals durfte ich meine Gruppen noch nach Mexiko | |
| führen.“ Gemeinsam bestiegen sie Canyons und besuchten archäologische | |
| Grabungsstätten. Über Nacht zelteten sie im Freien. „Meine Gäste konnten | |
| beide Seiten des Flusses kennenlernen, sich frei bewegen.“ | |
| Seit der Grenzschließung nach 9/11 dürfen die Riverguides ihre Touren nur | |
| eingeschränkt anbieten: Das mexikanische Ufer zu betreten ist streng | |
| verboten. Wer auf der falschen Seite des Rio Grande erwischt wird, dem | |
| drohen 5.000 Dollar Bußgeld und Gefängnis. Die größten Verlierer der | |
| Grenzschließung sind die Mexikaner, meint Cynta: Ihre Gemeinden werden | |
| ökonomisch ausgetrocknet. | |
| „Den Menschen auf der mexikanischen Seite ging es vor der Grenzschließung | |
| gut“, sagt sie. In den Ortschaften lebten viele Familien, es gab genügend | |
| Arbeit. Seit die Grenze dicht ist, sind die meisten Dörfer wie | |
| ausgestorben. Die Schuld sieht sie bei der Regierung in Washington: „Es ist | |
| so lächerlich, dass die Politik immer in Grenzen denkt!“ | |
| ## Ganz in Wild-West-Manier | |
| Am nächsten Morgen kehren wir von Terlingua aus an den Rio Grande zurück. | |
| Wir wollen den Fluss von Land erkunden und zwar – ganz in Wild-West-Manier | |
| – auf einem Pferd. Reitkenntnisse braucht man nicht zwingend: Die Tiere von | |
| unserem Tour Guide Linda Walker sind so dressiert, dass sie in der Gruppe | |
| gemächlich in Reihe traben. Auch steile Abhänge machen ihnen nichts aus. | |
| Wir ziehen über schmale Pfade vorbei an Ocotillo-Sträuchern, die auf dem | |
| trockenen Prärieboden wachsen. Wildschafe dösen hinter Felsvorsprüngen. Die | |
| Sonne brennt auf der Haut. | |
| Seit 30 Jahren organisiert Linda Pferdetrips in Texas. In ihrer Jugend | |
| arbeitete die heute 58-Jährige als Sportreiterin, entschied sich aber gegen | |
| eine Profikarriere. Die Arbeit mit Pferden aber liegt ihr noch immer im | |
| Blut: „Ich bin auf einer Farm aufgewachsen und hatte mein ganzes Leben lang | |
| mit Pferden zu tun“, erzählt sie. „Wir verbrachten jeden Tag mit den | |
| Tieren, sie gehörten fast schon zur Familie!“ | |
| Von den Spitzen der Canyons aus gesehen ist der Rio Grande kaum breiter als | |
| ein gewöhnlicher Fluss. In der Trockenzeit ist es von einem Ufer zum | |
| anderen kaum weiter als 35 Meter. Auch ohne Boot könnte man im brusttiefen | |
| Wasser einfach die Grenze passieren. Trotzdem seien illegale Einwander | |
| sowie Drogen- oder Waffenschmuggel am Big Bend kein Thema, sagt Linda. | |
| ## Früher war es nur ein Fluss | |
| „Beim Drogenhandel geht’s um viel Geld“, sagt sie. „Wenn du dich hier am | |
| Rio Grande umschaust – es gibt hier keine Infrastruktur, keine Straßen oder | |
| Umschlagplätze, die man für den Schmuggel im großen Stil braucht.“ Die | |
| Grenzschließung nach 9/11 hält auch sie für falsch. Texaner und Mexikaner | |
| hätten zuvor in der Region zusammengelebt. Der Rio Grande war lediglich ein | |
| Fluss, keine Grenze. Touristen haben die Gemeinden besucht und eingekauft – | |
| auf beiden Seiten des Flusses. | |
| Allen sei es sehr gut damit gegangen, sagt Linda: „Die Grenze wurde | |
| geschlossen, damit die USA sicherer werden. Doch das ist nicht geschehen.“ | |
| Nachdem die Wirtschaft auf der mexikanischen Seite zusammenbrach, sind die | |
| guten und zuverlässigen Leute weggezogen. „Wer heute auf der anderen Seite | |
| des Flusses lebt, wissen wir nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass | |
| es nicht mehr die guten Nachbarn sind wie früher.“ | |
| Doch Besserung ist in Sicht: Seit Kurzem ist der Checkpoint Boquillas | |
| Border Crossing im Osten des Big Bend für Tagesausflüge auf die | |
| mexikanische Seite geöffnet. Es ist ein Anfang. Aber Linda setzt viel | |
| darauf: „Es ist fantastisch, dass der Grenzübergang offen ist“, sagt sie. | |
| „Es gibt uns wieder neue Hoffnung, dass Menschlichkeit und Vernunft | |
| wichtiger sind als Regeln von Politikern, die das Leben hier am Rio Grande | |
| gar nicht kennen.“ | |
| 5 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Eins | |
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