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# taz.de -- Aussteiger in Deutschland: Into the wild
> Wie in Thoreaus „Walden“: Ein Student zieht in den Wald, um dort freier
> zu leben – bis der Grundbesitzer die selbstgebaute Hütte entdeckt.
Bild: Der „offene Pavillion“, wie Simon Baumeister seine Behausung nennt.
Wenn Simon Baumeister* nachts nach Hause kommt, braucht er keinen Schlüssel
und er muss auch nicht Acht geben, dass die Mitbewohner aufwachen.
Gefährlich werden können ihm nur die rutschigen Erdhänge oder die Zecken
auf dem schwer sichtbaren Trampelpfad im Wald. Doch der 27-Jährige klettert
leichtfüßig über umgestürzte Bäume: Seit mehr als zwei Monaten stakst er
nun jeden Tag den Schlossberg hinauf.
Eine Wohnungstür gibt es nicht. Stattdessen klettert Baumeister über einen
Zaun. Seinen provisorischen Unterschlupf hat er auf einer Lichtung
innerhalb eines eingezäunten Privatgrundstücks errichtet. Es war das
einzige flache Waldstück vor und hinter einer dichten Wand aus Bäumen, wie
er sagt. Darunter liegt Freiburg im Breisgau.
„Es ist schwierig, solche Freiräume zu finden“, erzählt Baumeister. Einen
Monat lang habe er gesucht, sagt der Umweltwissenschaftsstudent. Mit
Isomatte, Schlafsack, ein paar Büchern und Klamotten zog er schließlich auf
dem Freiburger Schlossberg ein.
Er verließ seine WG, verschenkte seine Möbel und baute mit Unterstützung
seiner Freunde den Unterschlupf. „Die Kosten für die Miete und der
materielle Besitz sind mir zu Last geworden“, sagt er. „Man sammelt im
Laufe der Zeit immer mehr Besitz an, und seit ich das nicht mehr habe,
fühle ich mich freier.“
## Gesellschaftliche Unordnung
Wenn Baumeister spricht, schwingt Auflehnung mit und der Wunsch, ein wenig
gesellschaftliche Unordnung zu erzeugen, vor allem aber das Bedürfnis,
durch größere Freiheit zu sich selbst zu finden. Eine Sehnsucht nach
Einfachheit in einer Welt, in der sich immer alles schneller dreht?
Viele suchen nach einer Nische im Alltag, die nicht gesellschaftskonform
ist, um auszubrechen, durchzuatmen, um dem Alltagstrott zu entfliehen. Die
wenigsten jedoch leben dieses Bedürfnis so extrem aus wie der Student.
Auch Baumeisters Ansatz ist nicht bis ins Letzte konsequent: Sein Name
steht am Briefkasten eines Freundes. Dort lädt er auch alle drei Tage sein
Smartphone auf. Zum Duschen geht er zum nahe gelegenen Unisport-Zentrum.
Bis zur Innenstadt sind es nur zehn Minuten zu Fuß.
Ein Gärtnerjob neben der Uni bringt ihm ein wenig Geld, gleichzeitig kann
er sich auf die finanzielle Unterstützung seiner Eltern verlassen. Das ist
Aussteigertum mit doppeltem Boden. Rebellion mit Versicherung. Aber auch:
Die Freiheit, die er sich leisten kann.
Es ist nicht das erste Mal, dass Baumeister im Wald schläft. Nach einem
Auslandsaufenthalt in Ghana hatte er 2012 in Bingen am Rhein schon einmal
einige Monate abwechselnd bei Freunden und im Wald übernachtet. Seinen
Tagesablauf betreffend, ist er trotzdem kein klassischer Aussteiger.
Tagsüber geht er in die Uni. Ein- bis zweimal die Woche jobbt er, trifft
Freunde. Tagsüber Stadtleben, nachts die Stille des Waldes.
„Für mich ist das kein Rückzug aus der Gesellschaft, sondern eine Variante
von befreitem Leben ohne Mietlast und zu viel materiellen Besitz“, erklärt
er seine Entscheidung. Was ihn antreibt, ist auch die Sehnsucht nach der
Natur.
## Henry David Thoreau
Schnell kommt er auf Henry David Thoreaus „Walden“ oder „Leben in den
Wäldern“ zu sprechen, wenn er sein Leben erklärt – seine Inspiration.
Gleichzeitig wolle er auch ein Zeichen setzen gegen die
Wegwerfgesellschaft, die gesellschaftlich gesetzten, finanziellen Bürden.
Vielleicht geht es ihm auch darum, sich über kleine Dinge wieder freuen zu
können, und darum, die Selbstverständlichkeit, mit der wir unseren Reichtum
hinnehmen, abzubauen.
Mit etwas Fantasie erkennt man eine Terrasse vor Baumeisters Unterschlupf,
dem „offenen Pavillon“, wie er seine Behausung nennt. Den meisten Platz
aber nimmt eine Bambusliege ein. Stolz zeigt er ein am Dach befestigtes
Moskitonetz, in das er eine Luftmatratze und einen Schlafsack gestopft hat.
Jeden Abend lässt er das Knäuel herunter und lauscht der nächtlichen
Symphonie des Waldes.
Neben der Bambusmatte füllt die Küche die restliche Stätte. Das einzige
konventionelle Möbelstück ist ein kleines Regal. Darin hat Baumeister einen
Gasherd untergebracht, den er gebraucht für 20 Euro gekauft hat.
So wie Baumeister im Wald zu leben, ist grundsätzlich nicht verboten – aber
nur solange kein Zelt und keine Hütte errichtet wird. Streng genommen
begeht er auf einem eingezäunten Waldgrundstück Hausfriedensbruch. Ihm sei
herzlich egal, was das Gesetz zu seiner Behausung sagt, bekennt er
freimütig. Schließlich füge seine Hütte im Wald niemandem Schaden zu. Vor
Gericht könnte das mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet werden.
## Integration und Abschottung
Davon ist im Wald nichts zu spüren: Vögel zwitschern in den Baumwipfeln,
gedämpft dringt das Rauschen der Autos in die Lichtung hinauf. Säuberlich
schneidet der blonde Student in Outdoorklamotten Aubergine, rote Paprika
und Zwiebeln in Würfel und gibt sie in einen Wok.
Angst, dass sein Refugium eines Tages geräumt werden könnte, hat er nicht.
Und wenn doch? Baumeister zuckt lakonisch mit den Schulter. Er wolle sich
ausprobieren, Erfahrungen sammeln – und das auf natürliche Weise. Wenn ihm
der Wald zu ungemütlich werde, ziehe er zu Freunden. Sich treiben lassen
zwischen Integration und Abschotten, das sei sein Wunsch.
Einen Großteil seiner Lebensmittel holt sich Baumeister beim Containern. Er
lebt also von dem, was andere im Supermarkt nicht mehr kaufen, weil es
abgelaufen oder leicht beschädigt ist. „Ich brauche nicht viel Geld in der
Woche“, erzählt er unbekümmert.
Auch in der Mensa hat er vor Kurzem die Vielfalt des übrig gelassenen
Essens auf den Tabletts entdeckt und setzt sich nun am liebsten hinter das
Fließband, um sich ein Menü aus den Resten zusammenzustellen.
## Alleinstellungsmerkmal
Seine Freunde bewundern, dass er seine eigenen Interessen verwirklicht.
„Durch das Alleinstellungsmerkmal meiner Unterkunft kommen oft Freunde und
Bekannte zu mir, weil sie neugierig sind. Das verbindet auf eine schöne Art
und Weise.“ Baumeister will sich von der Masse abheben, wichtig machen aber
will er sich nicht. Es klingt sehr überzeugend, wenn er sagt: Auf einer
Bambusmatte im Wald zu schlafen genüge ihm, um zufrieden zu sein.
Mit dem Wok und zwei Gabeln bewaffnet, machen sich Baumeister und sein
Kumpel auf den Weg in die Weinreben. Auf einem ebenen Stück zwischen saftig
grünen Reben schaufeln sie sich Reis und Gemüse in die Münder, während am
Horizont die Sonne untergeht.
Stolz berichtet Baumeister, wie er nach seiner Masterarbeit nach Myanmar
trampen will, um dort für ein halbes Jahr Praktikum zu machen. Es wird
einer der letzten Abende sein, an denen der Student unterm Sternenhimmel
schläft. Denn der Besitzer des Grundstücks hält wenig von dieser
romantischen Idee.
## Kein Weltuntergang
Als der Eigentümer wenig später die Hütte bemerkt, alarmiert er die
Polizei. Die beschlagnahmt Baumeisters Kamera, hinterlässt eine Notiz, er
möge sich bei ihnen melden. Doch das tut der Student nicht – aus Angst vor
einer Anzeige. Die Polizei kennt seinen Namen nicht – und das soll auch so
bleiben.
Stattdessen packt er seine Sachen und zieht zu einem befreundeten Pärchen
in die WG. „Schade um die Kamera, aber auch kein Weltuntergang“, meint er
nur. Bald ist er schließlich wieder unter freiem Himmel – und auf dem Weg
nach Myanmar.
* Name geändert
19 Oct 2014
## AUTOREN
Anika Maldacker
## TAGS
Freiburg
Konsumkritik
Texas
Konsum
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