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# taz.de -- Wissenschaft und Wahrhaftigkeit: Eine schöne Illusion
> Wer in der Wissenschaft kunstvoll bescheißt, wird bewundert. Eine
> Theaterwissenschaftlerin beschreibt ihren schönsten Betrug.
Bild: Jede Wartende kann Teil eines unsichtbaren Theaters sein.
Einige nennen es Betrug, viele nennen es Kunst, ich sage: Es war Notwehr,
dass ich den Gegenstand, über den ich meine Magisterarbeit schrieb, erfand.
Im Fach Theaterwissenschaft geschah dies. Da sind die Umstände günstig.
Das Studium am Theaterwissenschaftsinstitut der Freien Universität Berlin
war grauenhaft. Die Räume überfüllt, die Dozenten unmotiviert, die Referate
langweilig. Meistens. Ja, okay, Theater eben, von der Antike bis zu Brecht
und Heiner Müller.
Was an diesem Institut in den achtziger Jahren passierte, war wie losgelöst
von der Realität, es war nichts Ganzes, nichts Halbes. Gelehrt wurde
Wissen, das im Wolkenkuckucksheim, im Elfenbeinturm, im Luftschloss wichtig
ist. Während in der Riemeisterstraße in Berlin-Dahlem von Katharsis im
Drama gesprochen wurde, besetzten andere in Berlin-Kreuzberg Häuser und
kapierten auf diese Weise, dass sie soziale Wesen mit Pflichten, aber auch
mit Rechten sind.
Wichtig fürs Verständnis ist auch noch: Ich studierte zu einer Zeit, als es
für Leute, die Bafög bekamen wie ich, nicht möglich war, das Fach zu
wechseln. Welcher tiefere Sinn hinter dieser Regelung steckte, erschloss
sich nicht.
## Das „Unsichtbare Theater“
Niemals hätte ich das Studium beendet, wären nicht aus Südamerika die
Theatertechniken der dortigen Befreiungsbewegung nach Europa geschwappt.
Der Regisseur Augusto Boal versuchte, mit den Mitteln des Theaters die
Menschen zu bilden. Vor allem das „Unsichtbare Theater“ schien ihm dafür
geeignet zu sein. Mit seinen Schauspielern und -spielerinnen entwickelte er
Szenen, die auf der Straße spielten. Etwa ein armer Mann, der vor einem
Hotel zusammenbricht, oder Campesinos, die von Polizisten traktiert werden.
Was die Passanten nicht wissen, die Szenen sind inszeniert, die Reaktionen
einstudiert.
Da könnten also Spieler sein, die die wohlhabenden Hotelgäste in die
Problematik der Armut verwickeln, sie zum Handeln – und sei es nur zum
Spenden – animieren. In der Szene mit den schlagenden Polizisten wären
Spieler möglich, die sich empören, wie auch andere, die die Polizisten
verteidigen, „wo kämen wir sonst hin?“ Durch solche inszenierten Reaktionen
wurde versucht, auf das Bewusstsein der Passanten und Passantinnen, die
nicht wussten, dass das alles Theater war, einzuwirken. Subversive
Strategien der Weltverbesserung. Mir gefiel das.
Zufällig lernte ich in Kreuzberg eine Gruppe kennen, die Unsichtbares
Theater auch in West-Berlin machen wollte. Themen gab es genug.
Obdachlosigkeit, sexuelle Gewalt, Atomraketenstationierung. Auch hier,
befand die Gruppe, tat Aufklärung not. Dummerweise löste sie sich auf,
bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte.
Ich ließ die Gruppe trotzdem weiterleben in meiner Magisterarbeit, ich
entwickelte Szenen, die in U-Bahnen oder sonst wo spielten, obwohl sie nie
stattfanden, analysierte die Reaktionen, baute gelungene und misslungene
Interaktionen ein und beschrieb, wie die Gruppe am Ende an ideologischen
Differenzen zerbrach. Ich schrieb meine Magisterarbeit über Unsichtbares
Theater in Berlin. Der Titel der Arbeit: „Die Illusion“.
## Dada und Fluxus
Um der Arbeit größtmögliche Glaubwürdigkeit zu geben, packte ich allerhand
Thesen und Theorien mit hinein, suchte Parallelen des Unsichtbaren Theaters
bei der Comedia del Arte, bei Dada und Fluxus und ging generell auf die
Suche nach der Theatralität im Alltag.
Dass das Unsichtbare Theater, das ich in Wirklichkeit spielte, zwischen mir
und dem Theaterwissenschaftsinstitut stattfand, wusste nur ich. (Wobei mich
das Gefühl, dass einer der prüfenden Professoren das Ganze durchschaute und
mitspielte, nie losließ. Fragen allerdings kann ich ihn nicht mehr, er ist
2002 verstorben.)
In der Regel ernte ich Bewunderung, wenn ich von dieser Übertretung
erzähle. Es geht mir wie dem Musikwissenschaftler, der über einen
Komponisten schrieb, den es nicht gab. Als der Professor mehr
Kompositionsbeispiele wollte, komponierte er sie selbst. Auch die Frau, die
unter Pseudonym einen Krimi veröffentlicht hatte und ihre Magisterarbeit in
Germanistik schrieb über Strategien von Krimiautorinnen am Beispiel des
Krimis, den sie selbst verfasst hatte, bekam Bewunderung für ihre Chuzpe.
## Kein allgegenwärtiges Netz
Alle drei Beispiele sind aus den achtziger Jahren, also aus einer Zeit, als
das Internet noch keine leichte Überprüfung möglich machte, als es noch
kein Twitter, Facebook und YouTube gab, niemand Aufnahmen machte und sie
ins Netz stellte.
Strategien des Faktischen, die etwas so scheinen lassen, als wäre es real,
und ihm so Realität verleihen, werden in der Wissenschaft immer wieder
angewandt. Testreihen werden publiziert, Ergebnisse daraus abgeleitet. Will
jemand den Gegenbeweis antreten, muss er sich an der Fragestellung
derjenigen orientieren, die zuerst ihre Wahrheit in die Welt gesetzt haben.
Wissenschaft ist mitunter eine Anmaßung. Ihr wird Autorität zugeschrieben,
ob zu Recht oder Unrecht, bleibt manchmal unklar. Das könnte erklären,
warum ich Bewunderung erfahre: Ich persiflierte dieses System.
Manche Reaktionen allerdings waren pragmatischer: Warum diese Mühe, warum
schreibst du nicht einfach irgendwas ab? Es liefe aufs Gleiche hinaus. Die
Antwort: Vielleicht, weil mich die Bewunderung freut. Hätte ich
abgeschrieben, hielte ich den Mund.
## Respekt und Schummelei
Der amerikanische Professor für Verhaltensökonomie Dan Ariely forscht seit
Jahren über die Bereitschaft zur Unehrlichkeit, er forscht übers Schummeln,
Täuschen, Übervorteilen, Bescheißen. Eine seiner Erkenntnisse: Die
Bereitschaft, sich Vorteile zu verschaffen, wenn sich die Gelegenheit
bietet, ist weit verbreitet. (Erinnert sei hier nur an Steuererklärungen,
ans Schwarzfahren.) Beschissen wird jedoch, fand Ariely heraus, meist nur
bis zu dem Grad, den man vor sich selbst noch rechtfertigen kann, selbst
wenn man ohne Konsequenzen weiter bescheißen könnte.
Eine andere Erkenntnis seiner Forschung: Wer regelmäßig an moralische
Standards erinnert wird, es müssen nicht die Zehn Gebote sein, es können
auch Regeln sein, die man sich selbst gibt, bescheißt weniger. Ein drittes
Ergebnis: Wer sich nicht respektiert, nicht wertgeschätzt fühlt, neigt
schneller zum Schummeln.
Arielys Forschung kann im Ansatz erklären, warum ich bis heute keinerlei
Skrupel habe, dass ich meine Magisterarbeit erfand, und auch, warum ich
dafür Bewunderung ernte.
Manchmal habe ich , wenn ich feststellte, dass mein Text ein Zitat braucht
aus einem Buch, das Autorität hat, um so meinem Text mehr Bedeutung zu
geben, eins aufgeschlagen, meine Finger auf eine Stelle getan und das, was
sich dort fand, zitiert. Wie hier jetzt: Ich nehme die Bibel, schlage sie
auf, lasse meine Augen schweifen und bleibe – zugegeben erst beim dritten
Versuch – an diesem Satz hängen: „So ich mich ja rühmen soll, will ich mi…
meiner Schwachheit rühmen.“ (Zweiter Korintherbrief, 11. Kapitel, Vers 30)
18 Oct 2014
## AUTOREN
Rose Ring-Mebin
## TAGS
Wissenschaft
Betrug
Theater
Karl Theodor zu Guttenberg
Annette Schavan
Elite
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