# taz.de -- Der Grenzer, der die Mauer öffnete: „Ich habe nur das Menschlich… | |
> Oberstleutnant Harald Jäger gab am 9. November 1989 den Weg für | |
> DDR-Bürger in den Westen frei. Ein Gespräch über eine Nacht, die die Welt | |
> veränderte. | |
Bild: An der Gedenkstätte Bornholmer Straße stehen heute Plakatwände mit Bil… | |
taz: Herr Jäger, Sie waren 28 Jahre lang Grenzsoldat an der Bornholmer | |
Straße. Was erkennen Sie heute dort wieder? | |
Harald Jäger: Das Einzige, was noch wie damals aussieht, ist die Brücke. | |
Alles andere ist weg. Schon schade. Der Senat wollte eigentlich den ganzen | |
Platz kaufen und ein Denkmal daraus machen, aber Lidl hat mehr gezahlt. | |
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie auf der Brücke sind? | |
Mir kommen Bilder aus den ganzen Jahren vor Augen, selbst der 9. November | |
läuft ab wie ein Film. Die Brücke war wie ein zweites Zuhause für mich. Es | |
ist ein schönes Gefühl, weil das Ergebnis jener Nacht stimmte. | |
Gegenüber von Lidl ist der Platz des 9. November: Der heißt ja nur | |
Ihretwegen so. | |
Warum wegen mir? Es war Zufall, dass ich Dienst hatte. Nur der Ort war kein | |
Zufall: Er war der bekannteste Straßenkontrollpunkt mit der besten | |
Verkehrsanbindung. Dazu kam: Bis 60 Meter vor dem Kontrollpunkt wohnten | |
Menschen, und in Prenzlauer Berg lebten damals, wie wir sagten, die meisten | |
„feindlich negativen Kräfte“ der Hauptstadt. Also eine hohe Anzahl | |
Nichtwähler, Ausreiseantragsteller, Umweltbewegte – alles, was da Rang und | |
Namen hatte. Das war mit ausschlaggebend für das, was passierte. | |
Bis wann hatten Sie denn am 9. November Dienst? | |
Bis 19 Uhr. Danach war nichts mehr normal. | |
Also bis zur berühmten Pressekonferenz von SED-Funktionär Günter | |
Schabowski. Haben Sie die gesehen? | |
Ja, aber nur, weil ich gerade Hunger hatte. Ich hatte 24-Stunden-Dienst, | |
ich wollte Abendbrot essen. Ich holte mir Brötchen und Tee, aber weil zwei | |
der Tische voll besetzt waren, musste ich allein sitzen. Nur deswegen habe | |
ich überhaupt Nachrichten geschaut. Mir blieb buchstäblich der Bissen im | |
Hals stecken, als Schabowski sagte: „Das gilt sofort und unverzüglich“. | |
Vielen, die die Pressekonferenz verfolgten, war nicht klar, was das | |
bedeutet. Wieso Ihnen? | |
Als der gesagt hat: „sofort und unverzüglich“, hieß das für mich im | |
Amtsdeutsch: ohne Verzug! Also ohne Bedingung, ohne Vorlage von Dokumenten. | |
Wohl gemerkt: Schabowski hat gesagt, dass sie ausreisen dürfen – von wieder | |
einreisen war keine Rede. | |
Was haben Sie dann gemacht? | |
Ich habe alles stehenlassen und im Rausgehen zu meinen Kollegen gesagt: | |
„Was redet der denn für geistigen Dünnschiss!“ Die wussten gar nicht, was | |
ich meine. Ich habe sofort den nächsthöheren Oberst in der Hauptabteilung | |
in Oberschöneweide angerufen. Der sagte: „Wegen diesem Quatsch rufste an? | |
Weißt doch, unter welchen Bedingungen DDR-Bürger ausreisen dürfen: Die | |
müssen ein Visum beantragen, das dauert mindestens sechs Wochen.“ Und: | |
„Haben sich schon Leute gemeldet?“ | |
Und? Waren da schon welche? | |
Das war etwa fünf Minuten nach der Bekanntgabe. Ich bin zum Posten und | |
sagte dem Kollegen: „Wenn welche kommen, schick die wieder zurück“. Er: �… | |
klar. Meinste Wildschweine?“ | |
Wildschweine? | |
Seit zwei Jahren kamen nachts immer häufiger sturzbesoffene DDR-Bürger, | |
legten ihren Ausweis vor und sagten: "Wir möchten nach Westberlin". Die | |
wussten, dass wir Häftlinge in den Westen verkauften und dass | |
Ausreisewünsche am Kontrollpunkt nach Paragraf 213 zur Straftat wurden: | |
„ungesetzlicher Grenzübertritt“. Die Leute wurden festgenommen. | |
Also wusste der Kollege nichts. | |
Nein, das erklärte ich ihm dann erst mal. Fünf, sechs standen schon vor dem | |
Schlagbaum, 80 Meter entfernt, vor dem Hinweisschild „Grenzgebiet, betreten | |
nur mit gültigem Ausweis“. Na, da haben wir sie erst mal stehen lassen. | |
Nur eine Handvoll? | |
Mit der nächsten Straßenbahn kam gleich wieder ein Schwung, das wurden | |
immer mehr, immer mehr. Ab und zu fragte mal einer: „Haben Sie das von | |
Schabowski gehört? Darf ich ausreisen?“ Wir sagten dann immer: „Wenn Sie | |
ein Visum haben, sonst müssen Sie das morgen beantragen.“ Aber von Minute | |
zu Minute wurden es mehr. Und dann kam der Kollege vom Polizeirevier | |
vorbei. | |
Und was wollte der? | |
Mal schauen. Der wusste auch nichts Neues. Er blieb unten mit seinem | |
Funkstreifenwagen stehen und gab per Megafon eine Meldung durch: DDR-Bürger | |
sollten sich zwecks Beantragung eines Visums auf dem Polizeirevier melden. | |
Da haben sich einige gefreut und sind los zum nächsten Revier am | |
Arnimplatz, hin und zurück dauerte das 20 Minuten – aber es war nach 20 | |
Uhr, die Reviere hatten schon zu. | |
Er wollte sie ablenken? | |
Ja, aber er hat das absolute Gegenteil bewirkt: Die kamen sich verscheißert | |
vor. Und marschierten dann in Gruppen zur Grenze. Gegen 22 Uhr standen da | |
einige hundert – und wir waren nur 14 Mann. Also habe ich, obwohl ich nicht | |
befugt war, Alarm ausgelöst. So wurde unser Posten auf 48 aufgestockt. | |
Was war eigentlich inzwischen draußen los? | |
Die Leute riefen: „Wir wollen raus!“, das ging den ganzen Abend so. Die | |
Bornholmer war bald bis zur Schönhauser Allee in drei Reihen mit Pkws | |
zugestellt, es kam keiner mehr durch. Die, die zu Fuß da waren, konnten wir | |
schon nicht mehr schätzen. | |
Offiziell lauter Staatsfeinde. | |
Ja, aber für diese Situation hatten wir keine Regelung: Was nicht sein | |
durfte, das gab es nicht. Meine Truppen sagten: „Harald, du musst was tun“. | |
– „Ja“, sagte ich, „anrufen – mehr kann ich nicht“. Also rief ich w… | |
den Oberst an. Der sagte, ich solle sie zurückschicken. Ich: „Die lassen | |
sich nicht zurückschicken, Genosse Oberst“. Er nur: „Ich kann dir auch | |
nicht helfen.“ | |
Haben Sie mal bei den anderen Kontrollpunkten angerufen, um zu hören, was | |
die machen? | |
Nein, warum? Mit denen hatte ich ja nichts zu tun. Der Oberst hatte gesagt, | |
alles sei ruhig. Er holte mich heimlich in eine Konferenzschaltung, als er | |
den Stellvertreter von Mielke im Ministerium anrief. | |
Und? | |
Der wusste, dass an der Grenze was los ist. Und sagte: „Oberst Ziegenhorn, | |
ist der Jäger überhaupt in der Lage, die Situation richtig einzuschätzen | |
oder hat der bloß Angst?“ Ich dachte nur: Hallo, begreifst du überhaupt | |
was? Also habe ich den Hörer aus dem Fenster gehalten, damit er hört, was | |
das Volk ruft. Prompt wurde die Leitung getrennt. Verdammt, dachte ich, ich | |
bin seit 28 Jahren hier, hab den 13. August miterlebt und soll nicht in der | |
Lage sein, die Situation richtig einzuschätzen! Ich war stocksauer und lief | |
rum wie Falschgeld. | |
Was ärgerte Sie am meisten? | |
Der hat mir vor Augen geführt, wie kopflos und unvorbereitet unser ganzer | |
Staat und die militärische Führung war. Und dann glauben sie dir nicht und | |
unterstellen, du hast Angst! Ich kam gar nicht dazu, mich abzureagieren, da | |
rief schon wieder Oberst Ziegenhorn an. | |
Was wollte er denn diesmal? | |
Er gab den Befehl, die größten Schreihälse gruppenweise ausreisen zu | |
lassen, aber mit dem Stempel halb auf dem Lichtbild – als Zeichen, dass sie | |
nicht wieder einreisen dürfen. Aber das durften sie nicht wissen. Wer das | |
entschieden hat, weiß bis heute keiner. In dem Moment war mir nicht | |
bewusst, was für Unrecht wir begingen, das ging mir erst später auf. Dass | |
wir gegen Gesetze verstießen, war mir da egal. | |
Wann realisierten Sie das? | |
Nach einer Stunde, als gegen 23 Uhr dieses junge Ehepaar zurückkam: beide | |
Mitte 30, er mit Stempel auf dem Lichtbild, sie ohne, die Kinder zu Hause | |
im Bett. Ganz klar: Das war schiefgelaufen, sie hatten sicher nicht | |
provoziert. Ich erkannte, was für ein Unrecht der Befehl gewesen war. Mit | |
dem Stempel hatten wir den DDR-Bürgern die Staatsbürgerschaft aberkannt, | |
sie waren staatenlos. Was wir getan hatten, wäre ein offizieller Staatsakt | |
gewesen. Die im Ministerium waren offenbar nicht in der Lage, das richtig | |
einzuschätzen. | |
Die, die da standen: Waren das auch "feindlich negative Kräfte" für Sie? | |
Für mich nicht. Sie forderten ja nur das, was ich Ihnen immer am liebsten | |
gegeben hätte. die Grenze dichtmachen und alle erschießen, die rüberwollen, | |
das war doch keine Alternative! Es tat mir immer um jeden leid, der an der | |
Grenze umgekommen ist, egal ob 1961 oder 1989. Und egal, auf welcher Seite | |
er stand. | |
War das kein Widerspruch zu Ihrer Aufgabe an der Grenze? | |
Mein Job war es, die Grenze zu sichern. Das habe ich 28 Jahre guten | |
Gewissens getan, ohne mich zu schämen. Ich wurde Grenzschützer, weil ich | |
mein Land nach innen und außen schützen wollte. Das wollte ich damals | |
ehrlichen Herzens. | |
Können Sie sagen, wieso? | |
Das liegt an meiner Erziehung. Mein Vater war am 10. Mai 1945, also nach | |
der Kapitulation, von den Russen gefangen genommen und bis hinter den Ural | |
gebracht worden. Er kam erst frei, als ich schon in der Schule war – und | |
nur, weil er sich zum Grenzschutz gemeldet hatte. Von da an hat er uns so | |
erzogen, dass wir uns diesem Staat zugehörig fühlen. Mir war klar: So ein | |
Krieg durfte nie wieder passieren. Dass zugleich in Westdeutschland etwa | |
einer wie Hans Globke, der die Judengesetze mit durchgepeitscht hatte, | |
unter Adenauer Chef des Kanzleramts wurde, hat meine Einstellung nur noch | |
mehr geprägt. | |
Und nun, gegen 23 Uhr, standen Sie also an der Grenzkontrolle und ließen | |
Mitbürger raus. Wie viele waren es denn da? | |
500 bestimmt. Viele kamen auch schon zurück. Nach dem Fall mit dem Ehepaar | |
hatte ich sofort angewiesen: alle wieder einreisen lassen, Punkt. Ich | |
wusste da nicht, dass der SFB gesagt hatte, die Mauer steht weit offen. Der | |
Druck wurde immer größer, wir hatten Angst, dass Panik ausbricht. Es war | |
wie in einem vollen Zug, wenn man die Füße anziehen kann, ohne | |
durchzusacken. Der Zaun bog sich schon. Wäre der gebrochen, hätte es ein | |
Unglück gegeben. | |
Staatsratsvorsitzender Egon Krenz soll schon Tage vorher alle Waffen von | |
den Grenzposten abgezogen haben. Stimmt das? | |
Das ist eine Mär. Das hat mal ein Kommandant der Grenztruppen im Fernsehen | |
gesagt. Aber: An den Kontrollpunkten der Grenze gab es uns, die | |
Passkontrolleinheit - die war dem Ministerium für Staatssicherheit | |
unterstellt. Und dann gab es die Grenztruppen der NVA mit zwei Mann oben | |
auf dem Turm. Die Befehlsgewalt über die, die ein- und ausreisten, hatten | |
nur wir. Jener Kommandant hat gesagt, er hätte die Pistolen der | |
Passkontrolleinheiten eingesammelt: Das wäre einer Entwaffnung | |
gleichgekommen. Ich lass mich doch nicht entwaffnen! | |
Hatten Sie nun Sorge, Ihre Kollegen würden bei all dem Druck die Nerven | |
verlieren? | |
Na ja, es gab seit April eine Weisung, dass die Schusswaffen nicht mehr | |
eingesetzt werden dürfen – nur zur Notwehr. Aber Angst ist eben subjektiv. | |
Ich sagte den Kollegen also: „Nicht provozieren lassen, immer sachlich | |
bleiben, um die Leute nicht zusätzlich zu reizen.“ | |
Welche Optionen blieben Ihnen denn überhaupt noch? | |
Ich war auf mich allein gestellt. Als ich das letzte Mal den Oberst | |
angerufen und eindringlich um eine Anweisung gebeten hatte, kam nur: | |
„Genosse Jäger, ich habe doch gesagt, was du zu tun hast!“ – und bums! l… | |
er auf. Um 23.20 Uhr war mir angesichts der Menschenmassen klar, dass ich | |
nur noch eines machen kann. Ich gab also den Befehl: alle Kontrollen | |
einstellen, Schlagbaum auf und alle raus. Mir war zum ersten Mal alles | |
egal. | |
Diese Lösung kam Ihnen ganz plötzlich? | |
Das war eine Sache von Sekunden. Da legt sich ein Schalter um, dann muss | |
man handeln, sonst hat man keinen Mumm mehr. Aber ich habe den Schlagbaum | |
nicht selbst geöffnet: Dazu gibt man den Befehl, das macht man nicht | |
selbst. In dem Film, der gerade gedreht wurde, wird das anders dargestellt. | |
Aber das ist eben ein Film. | |
Der große Moment. Was haben Sie direkt danach gemacht? | |
Ich stürzte ins Bodenlose. Ich musste mal abschalten, wollte meinen Tränen | |
freien Lauf lassen. Die Euphorie der Menschen war noch nicht auf mich | |
übergeschwappt. Der Abend, das Verhalten meiner Vorgesetzten, alles war | |
eine Riesenenttäuschung. Gegen halb eins war ich kurz vorm Zusammenbruch | |
und wollte mich in eine Baracke zurückziehen. Aber da stand schon ein | |
Hauptmann und weinte bitterlich. Den musste ich erst mal beruhigen. Also | |
bin ich wieder raus, der andere Stellvertreter und ich standen zwei, drei | |
Minuten da und haben geschwiegen. Er sagte irgendwann: Harald, das war's | |
wohl mit der DDR. | |
Wie haben Sie das Ganze eigentlich Ihrem Oberst beigebracht? | |
Ehrlich, ich weiß nicht mehr, wie ich die 80 Meter vom Posten „Vorkontrolle | |
Ausreise“ bis zu unserem Dienstbüro geschafft habe. Mir lief der Schweiß | |
den Rücken runter, meine Knie schlackerten. Dann griff ich zum Hörer und | |
sagte ihm: „Ich habe die Kontrollen eingestellt.“ Er, völlig unmilitärisc… | |
„Ist gut, mein Junge.“ Wie ein Vater zum Sohn. Als ob er sagen wollte: | |
Endlich hast du begriffen, was zu tun ist. Er konnte mir vorher ja keine | |
direkte Anweisung dazu geben. | |
Die Flüchtlinge den Sommer über wollten für immer weg. Waren Sie nun | |
überrascht, als so viele direkt wiederkamen? | |
Meine Meinung und die vieler Kollegen war: Wenn der DDR-Bürger reisen darf, | |
wohin er will, dann wird ein Teil wegbleiben – aber die meisten kommen | |
zurück. Die hauen ja nur ab, weil sie eben nicht reisen dürfen. | |
Und wo waren die, die wiederkamen? | |
Die meisten haben sich kurz den Ku'damm angeschaut. Bis zum Wochenende sind | |
dann mehr als 400.000 DDR-Bürger über unseren Kontrollpunkt ausgereist – | |
nur ganz wenige sind mit Sack und Pack nach drüben. Da war ein junges Paar | |
mit Kinderwagen und Koffern, man sah, dass die die Republik für immer | |
verlassen wollten. Ich habe sie gefragt, ob sie im Interesse ihrer Kinder | |
nicht lieber bleiben wollen. | |
Was haben sie geantwortet? | |
„Nö“, sagten sie, „was wir hier sehen, hat für uns und unsere Kinder ke… | |
Perspektive.“ Honecker hat mal gesagt: Wir weinen keinem eine Träne nach. | |
Aber wenn die Jugend den Staat verlässt, soll man ihr keine Träne | |
nachweinen? Die Jugend ist doch das Beste, was ein Land hat! | |
Haben die DDR-Bürger an dem Abend versucht, mit Ihnen anzustoßen? | |
Ja, wir hätten rauschende Feste feiern können - aber wir waren ja im | |
Dienst. | |
Wie lange ging Ihre Schicht eigentlich? | |
Bis zum Morgen. | |
Und haben Sie zu Hause erst mal einen Schnaps getrunken? | |
Nein, ich musste um 10 Uhr zur Darmspiegelung. Als ich vom Dienst heimkam, | |
waren meine Frau und meine Tochter gerade dabei, aus dem Haus zu gehen. | |
Hatten die was mitbekommen? | |
Nee, aber sie haben mir angesehen, dass was war. Meine Frau fragte: | |
„Harald, was ist denn?“ Ich sagte: „Ich habe heute Nacht die Grenze | |
aufgemacht.“ Sie darauf nur: „Erzähl nicht so einen Blödsinn“, und ist | |
abgehauen. Ich musste aber mit jemandem reden, also habe ich meine | |
Schwester angerufen, morgens um 7 Uhr. Ich sagte: „Ich habe die Nacht über | |
was Schlimmes erlebt. Hast du die Pressekonferenz von Schabowski gesehen? | |
Bei uns sind Zigtausende angekommen, also habe ich die Grenze aufgemacht. | |
Ohne Schusswaffen.“ – „Dann hast du's richtig gemacht“, sagte sie. Da w… | |
ich beruhigt. Dann bin ich zum Arzt und abends wieder zum Dienst. | |
Wann sind Sie denn zum ersten Mal nach Westberlin? | |
Am 6. oder 7. Januar. | |
Wieso erst im Januar? | |
Ich durfte nicht früher. | |
Wie bitte? | |
Ich war ja Mitarbeiter der Staatssicherheit, wir standen unter besonderem | |
Schutz: Es hätte uns im Westen ja was zustoßen können. | |
Aber gewollt hätten Sie schon? | |
Ach, na ja. Als ich dann durfte, ist mir etwas Peinliches passiert: Ich bin | |
zur Volkspolizei, um ein Visum zu beantragen. Aber mein Ausweis war seit | |
einem halben Jahr abgelaufen. Und das mir! | |
Sind Sie mit Ihrer Frau rüber? | |
Nee, alleene. | |
Auch zum Ku'damm? | |
Nein, ich habe mir die Gegend im Wedding rund um den Gesundbrunnen | |
angeschaut, davon hatten die Westberliner erzählt, die bei uns ein- und | |
ausreisten. | |
Und wie war's? | |
Ich bin bei einem Türken vorbeigekommen und wunderte mich, was dieser Spieß | |
da ist, ich habe mich aber nicht getraut, mir was zu kaufen – dabei hatte | |
ich wahnsinnigen Hunger. Die 100 Mark Begrüßungsgeld habe ich mir aber | |
natürlich abgeholt, ich dachte mir: Die schenkst du dem Klassenfeind nicht! | |
Haben Sie sich denn was gekauft an dem Tag? | |
Ja, eine Elektropumpe fürs Auto. Bei uns gab's nur Handpumpen, das war so | |
anstrengend. Hat 10 Mark gekostet. | |
Na, da blieb ja einiges übrig. | |
Den Rest habe ich meiner Frau gegeben. Das haben sie und die Mädels dann | |
umgesetzt. Als meine Schwester zu Besuch kam, wollte sie unbedingt zum | |
Ku'damm, sonst wäre ich da nicht hin. Die Vielfalt im Gemüseladen dort hat | |
mich schockiert – Tomaten und Erdbeeren! Im Winter! | |
Kam Ihnen vor 1989 nie der Gedanke, dass da was falsch läuft? | |
Es gibt lauter Widersprüche in der Entwicklung der DDR, wie es sie auch in | |
jedem Menschen gibt. Die Auflösung von Widersprüchen bringt eine | |
Gesellschaft weiter. Aber in der DDR wurde alles, was nicht funktionierte, | |
abgehakt als „ist momentan nicht lösbar“. Wir haben uns selbst belogen. | |
Darüber habe ich mich oft mit meinem Kollegen unterhalten. Er hat gesagt: | |
Wenn einer besoffen aus der Kneipe fällt, reißen wir die Brauerei ab. Dazu | |
kommt: Wir wussten ja einiges. | |
Was meinen Sie? | |
Im April 1989 hatte der Chef der Hauptabteilung Geburtstag, er sagte: | |
Genossen, das Jahr wird ernst. Unser Land braucht Devisen, touristisch | |
gesehen müssen wir alles vermarkten, was es zu vermarkten gibt. Hasenjagden | |
wurden veranstaltet für Westdeutsche, Hirsch verkauft, Bilder, Häftlinge, | |
alles. Es gab nichts, was wir nicht verscherbelten. Wie so eine Nutte, die | |
alles anbietet. Mir war klar: Wir sind wirtschaftlich am Ende. | |
Damals waren Sie 18 und bei der Grenzpolizei. Was wollten Sie eigentlich | |
mal werden? | |
Nicht lachen: Pfarrer. Das ganze Drumherum hat mich beeindruckt als Kind. | |
Und mit 15 wollte ich Förster werden, war aber in der Schule nicht gut | |
genug, Abitur war für uns aus der Arbeiterklasse nicht gewollt. Also habe | |
ich Ofenbauer gelernt, danach noch ein halbes Jahr gearbeitet und mich dann | |
freiwillig für die Grenzpolizei gemeldet. | |
Wieso? | |
Ich wollte dem Land was zurückgeben. Ich hatte eine schöne Kindheit. Und | |
vor allem war ich naturverbunden. In einem Wald bei uns in der Nähe wurden | |
die Hundeführer der Grenzpolizei ausgebildet, und dann habe ich noch einen | |
Film über die Grenzkompanie im Thüringer Wald gesehen. Das wollte ich auch, | |
irgendwo im Harz oder an der Ostsee arbeiten. Dass ich ausgerechnet in | |
Berlin lande, war nicht geplant. Zur Armee und zur Polizei ging ja jeder. | |
Aber als Grenzpolizist war man jemand, das war damals wie eine | |
Eliteeinheit. Das war meine Heldenvorstellung als Jugendlicher. | |
Bald sind Sie ein Filmheld. Wie fühlt sich das an? | |
Na ja, Held. Helden sind die, die am 9. November vor uns standen. Ich habe | |
nur das Notwendige getan, das an dem Abend getan werden musste. | |
Was haben Sie gedacht, als Sie von der Idee zum Film hörten? | |
Man fühlt sich geehrt, klar. Im Mittelpunkt stehen ist nicht so meine Art, | |
aber die Geschichte ist nun mal so gelaufen. Ich wäre lieber der unbekannte | |
Harald Jäger geblieben. | |
Im Film heißen Sie immerhin Schäfer. | |
Das hat vor allem rechtliche Gründe. Sonst würde man glauben, alle Namen | |
sind echt. | |
Sorgen Sie sich, dass Sie sich im Film nicht wiedererkennen? | |
Nein, ich bin mit allem einverstanden, was im Drehbuch steht. Und der | |
Schauspieler, der mich spielt, hat mich auch besucht. Ich muss sagen, er | |
hat meine Mimik, meine Gestik und meinen Gang wirklich gut studiert. Und er | |
hat die Figur, die ich damals mal hatte. Anfang Oktober war ich an der | |
Swinemünder Brücke (im Film die Bösebrücke, Anm. d. Red.), um beim Dreh | |
zuzuschauen. | |
Wie war es, sich quasi selbst vor 24 Jahren zuzusehen? | |
Komisch. Da standen überall Autos und über 500 Komparsen und brüllten, da | |
war richtig Stimmung. Beim ersten Besuch am Filmset in Marienborn war es | |
aber noch unheimlicher: Auf einmal wurde einer in meiner Uniform mit Harald | |
angesprochen. Sie haben da eine Szene mit einem Hund gedreht, der über die | |
Grenze gerannt ist – das war in echt schon 1986 passiert. | |
Sah am Set alles aus wie damals? | |
Ja, ich habe wirklich gestaunt. Damit die Uniformen echt aussehen, habe ich | |
die Kostümbildner in Babelsberg auch mal einen Tag beraten. Es gab auch | |
einen Turm wie bei unserem Posten 1 damals, selbst die Schlagbäume sahen | |
identisch aus. Ich habe draufgeklopft – alles aus Pappe. | |
Ist dieser Film für Sie eine Bestätigung, dass Sie alles richtig gemacht | |
haben? | |
Schon. Aber dass ich das einzig Richtige getan habe, was an diesem Abend zu | |
tun gewesen wäre, wusste ich schon ein paar Tage nach dem 9. November. | |
Würden Sie sagen, dass Sie vor 1989 als MfS-Mitglied Unrecht getan haben? | |
Sicher. Damit meine ich keine Einzeltaten, ich musste zum Glück nie zur | |
Schusswaffe greifen. Aber ich habe den Staat über eine lange Dauer darin | |
unterstützt, sein Regime aufrechtzuerhalten. Das war mein Unrecht. | |
Und das, was Sie am 9. November gemacht haben, ist im Nachhinein die | |
Wiedergutmachung? | |
Nein, das kann man nicht wiedergutmachen. Ich habe das Menschliche getan. | |
Wären die Massen nicht gekommen, hätte ich ja nie die Grenze aufgemacht. | |
Brauchten Sie lange, um sich nach der Wende umzustellen? | |
Bei bestimmten Sachen dauerte das 12, 14 Jahre. Wenn ich etwa jemanden in | |
westdeutscher Uniform gesehen habe, egal ob Armee, Polizei oder Zoll, dann | |
war das für mich immer noch der Klassenfeind. So sehr hatte ich das | |
verinnerlicht. | |
Hatten Sie einen Aha-Moment, ab dem das anders wurde? | |
Nein, das kam allmählich. Zum einen, weil ich, obwohl ich schon vorher viel | |
über die DDR gewusst hatte, danach noch mehr erfuhr, was alles passiert | |
war. Sehr viel hat auch das Buch verändert, das ich mitgeschrieben habe, | |
das hat meinen Horizont erweitert. Und die heutige BRD ist ja nicht die, | |
die sie vor 1989 war. Ich akzeptiere das jetzt, ich bin angekommen und | |
fühle mich als BRD-Bürger. | |
Wie ging es für Sie nach der Wiedervereinigung weiter? | |
Die letzten zwei Monate hatten sie uns schon in eine Kaserne nach | |
Hohenschönhausen abgeschoben. Da haben wir aber nur rumgegammelt. Und ab | |
dem 1. Oktober war ich arbeitslos, fast zwei Jahre lang. Mich wollte keiner | |
haben mit der Vergangenheit, und für die Rente war ich mit 46 zu jung. In | |
der Zeit war ich übrigens oft an der Bornholmer. | |
Wieso? | |
Im Osten gab es keine Arbeit und kaum Telefonverbindungen in den Westen. | |
Und direkt hinter der Bornholmer Brücke stand eben eine Telefonzelle. Also | |
habe ich mir morgens immer die BZ gekauft und bin dorthin. | |
Auf welche Stellen haben Sie sich denn beworben? | |
Auf alle möglichen, ich habe es sogar als Ofensetzer versucht - aber dazu | |
war ich zu lange raus und zu alt. Nach fast zwei Jahren haben mir die alten | |
Seilschaften zur Staatssicherheit weitergeholfen. Dadurch kam ich zu einer | |
Agentur für Postzeitungsvertrieb, dann war ich Fahrer für eine | |
Tiefkühlkostfirma, später hatte ich meinen eigenen Zeitschriftenladen, aber | |
der lief nicht. Dann kamen wieder die alten Seilschaften ins Spiel. Einer | |
war beim Wachschutz und hat mich eingeschleust, da war ich 60. | |
Passt ja zu Ihrer beruflichen Erfahrung ... | |
Ja, man durfte keine Angst haben: Ich arbeitete im Maßregelvollzug in der | |
Bonhoeffer-Klinik in Reinickendorf - da musste ich auch jeden Tag über die | |
Brücke. Die meisten dort sind Verbrecher, Mörder, Dealer, | |
Kindervergewaltiger, alle psychisch krank. Und man musste Disziplin haben: | |
machen, was der Vorgesetzte sagt, ohne es zu hinterfragen. Das haben wir ja | |
jahrzehntelang gemacht. | |
Und das hat Ihnen diesmal nichts ausgemacht? | |
Na, irgendwas musste ich ja machen, arbeitslos werden ging nicht. | |
Viel Spaß scheint Ihnen der Job aber nicht gemacht zu haben. | |
Die ersten vier Jahre schon. Aber das letzte Jahr nicht mehr. | |
Warum nicht? | |
Weil dann das Buch über mich erschien. Vom Senat aus war es nicht | |
gestattet, ehemalige Staatssicherheitsmitarbeiter zu beschäftigen - und die | |
Klinik wird von der Stadt verwaltet. Der Wachschutz hätte mich also gar | |
nicht einstellen dürfen. Als mein Buch rauskam, war ich deshalb nicht mehr | |
zu halten und wurde zum Heizkraftwerk nach Rummelsburg versetzt, dort war | |
ich dann bis zur Rente. | |
Haben Sie eigentlich noch Andenken an damals? | |
Nein, nichts, es ist alles verbrannt. Bis Anfang August 1990 waren wir noch | |
auf der Bornholmer, dann waren wir wohl zu teuer. Samstag war unser letzter | |
Tag – und in der Nacht zu Sonntag fackelte irgendjemand unsere Baracke ab. | |
Was hätten Sie denn gern gerettet? | |
Meine wattierte Winteruniform – die wäre sehr gut zum Angeln gewesen. | |
5 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Anne Haeming | |
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