# taz.de -- Schulunterricht und Klassengesellschaft: Tattoo-Studio statt Museum… | |
> Kinder aus dem Bildungsbürgertum finden in deutschen Schulen ihre | |
> Interessen bestätigt. Doch für andere Kinder ist Schule oft ein Ort der | |
> Entfremdung. | |
Bild: Auch hier können Schulkinder eine Menge lernen. | |
Die Beziehungen der Menschen zur Welt werden wesentlich durch die Schule | |
geformt. Dort kommt es zur Auseinandersetzung mit dem „Weltstoff“, den sich | |
die Schüler und Schülerinnen aneignen oder zu dem sie Distanz einnehmen. So | |
wird eine „moralische Landkarte“ entwickelt, die zeigt, was uns im Leben | |
wichtig ist, was zu uns spricht und welchen Weltausschnitten wir | |
gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen. | |
Entscheidend dafür ist gar nicht so sehr, was auf dem Lehrplan steht. Die | |
Weltbeziehung entfaltet sich vielmehr in dichten Interaktionsprozessen (mit | |
Menschen und Dingen) im Klassenzimmer, auf dem Schulhof, auf dem Schulweg, | |
im Ferienlager. Dort entscheidet sich, welche Resonanz(in)sensibilitäten | |
ein junger Mensch ausbildet und über welches Resonanzrepertoire im Umgang | |
mit den Materialien, den Sinnangeboten und den Lebewesen dieser Welt er | |
oder sie verfügen wird. Manche Dinge sprechen uns an, andere nicht: Einige | |
Felder bleiben uns gleichgültig, andere lernen wir gar zu hassen. | |
Ob uns etwa Musik etwas zu sagen hat und welche Art Musik, entscheidet sich | |
an dem, was wir im Musikunterricht, im Chor, in der Geigenstunde und mit | |
Gleichaltrigen erfahren. Haben wir einen uninspirierten Musiklehrer oder | |
elterlichen Druck, der uns an die Geige zwingt, während wir für unsere | |
Lieblingslieder von Klassenkameraden ausgelacht werden, kommen wir | |
vermutlich zum Ergebnis, dass wir nicht so der musikalische Typ sind. | |
Eine wesentliche Rolle spielt hier nicht nur die Frage, ob und wie wir uns | |
von etwas berühren lassen, sondern auch, welche | |
Selbstwirksamkeitserfahrungen wir machen: Eine Resonanzachse wird sich nur | |
etablieren, wenn wir merken, dass wir in einem Fach oder bei einer | |
Tätigkeit gut sein können, dass wir etwas zu erreichen vermögen, dass uns | |
das Material – die Geige, der Basketball, das Gedicht, das Parteiprogramm, | |
der Neuronenstern – antwortet. | |
## Wenn Schüler und Lehrer verstummen | |
In (und an) der Popmusik zeigt sich, dass Schule für viele Jugendliche | |
monströse Entfremdungsqualitäten entwickeln kann. Sicher ist es kein | |
Zufall, dass in Pink Floyds Monumentalwerk „The Wall“ das Klassenzimmer zum | |
paradigmatischen Setting des Verstummens der Welt wird: „We don’t need no | |
education“ handelt von zynischem Sarkasmus in der Lehrer-Schüler-Beziehung. | |
Die Schule hat den größten Anteil an der Fabrikation der kalten, tödlichen | |
Mauer, die den Protagonisten Pink von jeder Weltresonanz abschneidet. | |
Übrigens finden sich in der Popmusik kaum Beispiele einer positiven | |
Verwandlung der Weltbeziehung – in Filmen, die im Schulmilieu spielen, in | |
Schulromanen und -erzählungen ist diese dagegen oft das zentrale Thema. Vom | |
„Fliegenden Klassenzimmer“ über den „Club der Toten Dichter“ bis zu �… | |
Ju Göhte“ – immer geht es um die Frage, ob Lehrer, Schüler und Stoff | |
füreinander stumm, feindlich oder gleichgültig bleiben oder ob die Lehrer | |
die Schüler zu erreichen vermögen, ob sie den Resonanzdraht in Schwingung | |
versetzen und die Welt zum Singen bringen. | |
Ist die These, dass Bildungsprozesse dort gelingen, wo es zur Ausbildung | |
von Resonanzachsen kommt, aber zutreffend, dann könnte dies auch erklären, | |
warum sich besonders in Deutschland die sozialstrukturelle Differenzierung | |
nicht nur reproduziert, sondern sogar verschärft. | |
Bildungsbürgerlich vorgeprägten Kindern bieten deutsche Schulen – so legen | |
es die Befunde zu den auseinanderklaffenden Bildungserfolgen von Schülern | |
aus unterschiedlichen sozialen Schichten nahe – ein reichhaltiges | |
Resonanzfeld, in dem sie sich Welt anzuverwandeln und | |
Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen vermögen, sei es im Chor, in der | |
Theater-AG oder der Leichtathletikgruppe. | |
## Genuines Interesse für alles | |
Kindern aus bildungsfernen Schichten präsentiert sich die Schule dagegen | |
vorwiegend als Entfremdungszone, in der diese sich „nichts sagen lassen“, | |
in der sie nichts anspricht und in der sie sich nur in einem zwischen | |
Gleichgültigkeit und Zurückweisung pendelnden Modus zu bewegen vermögen. | |
Wenn die Schule den maßgeblichen Impuls zur Entwicklung der subjektiven | |
Resonanzfähigkeit bildet, dann hätte diese Ungleichheit gravierende | |
Konsequenzen für die Lebensqualität der Menschen: Das gegenwärtige | |
Bildungs- und Schulsystem wäre kritikwürdig nicht (nur), weil es zu einer | |
äußerst ungleichen Ressourcenverteilung führt, sondern weil es den Kindern | |
aus benachteiligten Schichten systematisch den Zugang zu wesentlichen | |
Resonanzachsen versperrt. | |
Meine jahrelange Arbeit mit hochbegabten Jugendlichen hat mich überzeugt, | |
dass das entscheidende Charakteristikum von Begabung nicht Intelligenz, | |
sondern Resonanzfähigkeit ist: Wenn überhaupt durch etwas, dann zeichnen | |
sich hochbegabte Jugendliche gegenüber anderen dadurch aus, dass sie fast | |
allen Weltdingen – dem Sport, der Musik, der Physik, der Politik, dem | |
Teleskop, der Theater-AG – genuines Interesse entgegenbringen. Sie sind | |
zugleich davon überzeugt, dass sie diese Dinge in ein Antwortverhältnis zu | |
bringen vermögen, in dem sich ihre Selbstwirksamkeit entfaltet und | |
entwickelt. | |
Benachteiligte Jugendliche dagegen tendieren häufig zu einer | |
Null-Bock-Einstellung den Dingen gegenüber: Ach, das ist doof, das mag ich | |
nicht, das kann ich nicht, das klappt sowieso nicht. Sie erwarten keine | |
Begegnung, keine Interaktion, die sie zu verwandeln vermag. | |
## Wrestling, zum Moshpit und Tattoo-Studio | |
Die Befunde der Ungleichheitsforschung geben daher Anlass zu massiver | |
Kritik an einem Bildungssystems, das die Verteilung von Resonanz und | |
Entfremdung gleichsam schichtenspezifisch steuert, indem es Schule als | |
potenziellen Resonanzraum für die einen und als tendenzielle | |
Entfremdungszone für die anderen institutionalisiert. | |
Die mit den zentralen Resonanzachsen der Moderne verbundenen Praxisfelder – | |
etwa das Musikmachen, das Singen, Museumsbesuche, Wandern, Naturschutz, | |
kirchliches Engagement und politische Partizipation – sind für die | |
Bessergebildeten eindeutig attraktiver als für Menschen mit niedrigem | |
Bildungsstatus. | |
Wenn die genannten Praxisfelder aber bildungsbürgerlich geprägt sind, | |
bedeutet das nicht unbedingt, dass Menschen aus anderen sozialen Schichten | |
nicht über ihre eigenen Resonanzsphären und -praktiken verfügen. Sie können | |
vom Fitnesstudio über das Shoppingcenter zum Wrestling, zum Moshpit und zum | |
Tattoo-Studio reichen. | |
Es wäre ein pädagogische Herausforderung, solche Resonanzpraktiken auch in | |
der Schule als Teil der Weltvermittlung ernst zu nehmen. Die soziologische | |
Herausforderung indes besteht darin, Unterschiede in den Resonanzqualitäten | |
etwa zwischen singen und shoppen zu erkennen und darüber zu einer Kritik | |
der gesellschaftlichen Resonanzverhältnisse im Allgemeinen zu gelangen. | |
15 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Hartmut Rosa | |
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