| # taz.de -- Dokufilm über Zwangsstörung: „Das Zahlensystem ist wie ein Käf… | |
| > Oliver Sechting muss ständig Zahlen, Farben und Formen kombinieren. In | |
| > seinem Film „Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben“ thematisiert er diese | |
| > Zwänge. | |
| Bild: Das Einmaleins der Zwangsstörung: Regisseur Oliver Sechting beschreibt d… | |
| taz: Herr Sechting, in Ihrem neuen Film „Wie ich lernte, die Zahlen zu | |
| lieben“ machen Sie sich auf, um über Künstler in New York zu drehen. Der | |
| Film thematisiert aber auch Ihre Zwangsgedanken. Was passiert in Ihrem | |
| Kopf? | |
| Oliver Sechting: In meinem Kopf gibt es ein kompliziertes Regelwerk aus | |
| Zahlen, Farben und Formen, die negative und positive Kombinationen ergeben. | |
| Diese Regeln suche ich mir aber nicht aus, sie kommen zu mir und schränken | |
| mich ein. Es handelt sich um eine Krankheit, die „Magische Zwangsgedanken“ | |
| heißt. Wenn sich für mich böse Zahlenkombinationen ergeben, zum Beispiel | |
| aus der 5 und der 8, dann muss ich das neutralisieren. Oder gerade finde | |
| ich Ihren grünen Pulli problematisch. Grün gibt mir das Gefühl, mich mit | |
| Schleim zu füllen. Die Farbe muss ich mit der Zahl 7 oder dem Buchstaben G | |
| neutralisieren. Oder dem Weiß Ihrer Zähne. | |
| Wie fühlt es sich denn an, wenn Sie die Zwänge nicht neutralisieren? | |
| Ich reagiere mit diesen Zwängen ja häufig auf meine Umgebung. Wenn meine | |
| Mitmenschen negativ auf mich reagieren, mir zum Beispiel einen skeptischen | |
| Blick zuwerfen, dann bekomme ich ein starkes Angstgefühl. Und ich denke, | |
| ich hätte vergessen, irgendeine böse Kombination zu neutralisieren. Wenn | |
| ich das nicht sofort nachhole, kommt die Furcht, die Menschen in meiner | |
| Umgebung könnten sich nach und nach von mir abwenden. Danach kommt die | |
| Angst vor dem „sozialen Tod“, also dem Verlust aller sozialen Kontakte. Und | |
| am Ende würde dann mein tatsächlicher Tod stehen. Deshalb muss ich einfach | |
| neutralisieren, sonst schlägt die Angst in Depression um. | |
| Sie reagieren mit Ihren Zwängen also auf das Verhalten anderer. Wie | |
| reagieren andere Menschen denn auf Sie? | |
| Die meisten meiner Mitmenschen bemerken meine Zwänge gar nicht. Früher | |
| hatte ich andere Zwänge, sichtbare Handlungen. Ich musste zum Beispiel | |
| bestimmte Gegenstände antippen oder Schrittfolgen einhalten. Das fiel | |
| natürlich auf und war mir furchtbar peinlich, deshalb habe ich die Zwänge | |
| nach und nach in meine Gedanken verlagert. | |
| Da muss es doch besonders schwierig gewesen sein, [1][einen Film über die | |
| eigene Krankheit zu machen.] | |
| Ich hatte gar nicht vor, einen Film über meine Zwänge zu machen. Max | |
| Taubert, mit dem ich den Film gedreht habe, und ich sind ja eigentlich nach | |
| New York gefahren, um einen Dokumentarfilm über die dortige deutsche | |
| Künstlerszene zu machen. Durch meinen Mann, Rosa von Praunheim, kenne ich | |
| dort einige Künstler. Aber schon nach kurzer Zeit sind uns meine Zwänge | |
| dazwischengekommen. So hat sich unser Fokus immer mehr auf meine Krankheit | |
| verlagert. Max und ich haben dann begonnen, uns selbst und unsere | |
| Reaktionen zu filmen. Und ich habe auch mit den Künstlern über meine Zwänge | |
| gesprochen. | |
| Für Max Taubert war das nicht immer verständlich, obwohl er schon von Ihrer | |
| Erkrankung vor dem Film wusste. Im Film zeigt sich, wie sehr Ihre Krankheit | |
| auch ihn belastet. Sind Sie noch Freunde? | |
| Wir brauchten nach dem Film zwei Monate Pause voneinander. Dann, als er in | |
| den Schnitt ging, haben wir uns wiedergesehen und es war schon nach kurzer | |
| Zeit wie früher, vielleicht sogar besser. Das kennt man ja auch von | |
| längeren Reisen mit Freunden, da kommt es – auch ohne Zwänge – häufig zu | |
| Konflikten. Max und ich, wir wissen jetzt, wie wir miteinander umgehen | |
| müssen. Und ich habe gelernt, was ich meiner Umgebung zumuten kann und wie | |
| andere auf mich reagieren. Ich brauche jetzt weniger oft die Bestätigung | |
| von Max, dass alles zwischen uns in Ordnung ist. | |
| In einer Filmszene sprechen Sie mit der Schriftstellerin Anna Steegmann | |
| über die Krebserkrankung Ihres Mannes. Welche Funktion haben diese | |
| Künstlergespräche für Sie? | |
| Die Künstler werden im Film quasi zu Therapeuten. Das Gespräch mit Anna | |
| Steegmann nehme ich zum Beispiel zum Anlass, um von der Krebserkrankung | |
| meines Vaters zu erzählen. Damals war ich elf Jahre alt, mein Vater starb | |
| und meine Zwänge begannen. Ich bin vor dem Schlafengehen durch die Wohnung | |
| gelaufen und habe alle Türklinken von unten nach oben gedrückt, wieder und | |
| wieder. Damit wollte ich einen Schutzkreis um meine Mutter ziehen. Ich war | |
| noch klein und konnte nicht verstehen, wo der Krebs herkam, und hatte | |
| Angst, dass er auch sie holt. | |
| Im Film spricht der Regisseur Tom Tykwer mit Ihnen über seine eigenen | |
| kleinen Ticks. | |
| Tom Tykwer verdeutlicht ganz gut die Grenze zwischen Tick und | |
| Zwangserkrankung. Er ist nämlich nicht krank. Seine Ticks, immer genau zehn | |
| Schritte bis zur nächsten Tür zu gehen oder auf das Fehlen einer 13. | |
| Sitzreihe im Flugzeug zu hoffen, schränken ihn ja nicht ein. Wohingegen | |
| krankhafte Zwänge den Alltag stark beeinträchtigen. Für mich wäre es | |
| schwierig, wenn mein Arbeitsplatz die Hausnummer 58 hätte. Da müsste ich | |
| ständig zum Neutralisieren die 7 auf eine Zigarette schreiben und rauchen, | |
| obwohl ich Nichtraucher bin. | |
| Hat Ihnen die Arbeit am Film dabei geholfen, die Zahlen lieben zu lernen? | |
| Das war nie das Ziel des Films. Die im Titel erwähnte Liebe bezieht sich | |
| auf den Beginn meiner Zwangserkrankung. Nach dem Tod meines Vaters haben | |
| mir die Zahlen zunächst Halt und Orientierung gegeben. Heute entspricht das | |
| Zahlensystem in meinem Kopf aber eher einem Käfig. Ich hatte noch keinen | |
| Tag ohne Zwangsgedanken, auch wenn ich mir immer wieder vornehme, sie zu | |
| ignorieren, wie ich es auch in einer Szene im Film versuche. | |
| Und glauben Sie, dass Sie noch einen zahlenlosen Tag erleben? | |
| Ich lebe mittlerweile seit 28 Jahren mit diesen Gedanken und kann mich kaum | |
| noch daran erinnern, wie es ist, „normal“ zu denken. Und selbst wenn ich | |
| die Augen schließe, sind sie noch da. Ich träume sogar in Zahlen. Aber ich | |
| bin bei einer Therapeutin, mit der ich zum ersten Mal Fortschritte mache. | |
| Ich bekomme Medikamente, die helfen, und in der Verhaltenstherapie werde | |
| ich verstärkt mit meinen Zwängen konfrontiert. | |
| Der Dokumentarfilm war sicherlich eine Form, sich mit Ihren Zwängen zu | |
| konfrontieren. Ist das der Grund, weshalb Sie nun einen weiteren Film über | |
| Zwänge planen? | |
| Der nächste Film wird nicht von mir handeln. Es wird eine Draufsicht auf | |
| andere Menschen mit verschiedenen Zwängen. Ich habe aber durch meinen | |
| Dokumentarfilm gemerkt, dass ich mit diesen Zwängen nicht allein bin. Viele | |
| Leute haben mich darauf angesprochen. Schließlich leiden drei Prozent der | |
| Bevölkerung unter Zwangsgedanken. Deshalb möchte ich mit dem Film ein | |
| Bewusstsein für diese Krankheit schaffen. Das kann helfen – den Betroffenen | |
| und den Angehörigen. Ich selbst hatte mit dem Film ja quasi mein zweites | |
| Coming-out, das kann schon befreiend sein. | |
| 4 Dec 2014 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christine Stöckel | |
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| Dokumentarfilm | |
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