# taz.de -- Autorin Suki Kim über Nordkorea: „Alle haben ständig gelogen“ | |
> Suki Kim brachte den Söhnen der nordkoreanischen Elite Englisch bei. Ihr | |
> Buch wirft einen Blick auf eine verschlossene Welt voller Überwachung und | |
> Unwahrheiten. | |
Bild: Nicht aus der Reihe tanzen: Massenaufmarsch in Pjöngjang im November. | |
taz: Frau Kim, Sie sind 2011 an der Pyongyang University of Science and | |
Technology (PUST) als Lehrerin angestellt worden. Eine Google-Suche hätte | |
gereicht, um Sie als verdeckte Autorin zu enttarnen. Wie konnten Sie die | |
Stelle bekommen? | |
Suki Kim: Ich komme eher aus der literarischen Richtung, deshalb wurde ich | |
nicht wirklich als Journalistin wahrgenommen. Ebenso war ich bei keiner | |
Redaktion angestellt. Das Visum habe ich vom Bildungsministerium erhalten – | |
einer Behörde, die nichts zu tun hatte mit meinen vorigen Besuchen 2002 und | |
2008. Das System ist so stark untergliedert, dass ich letztlich damit | |
durchkam. | |
Die PUST wird von evangelikalen Missionaren aus dem Ausland geleitet. Dabei | |
werden in kaum einem Land der Welt Christen stärker verfolgt als in | |
Nordkorea. Wie passt das zusammen? | |
Tatsächlich kann man in Nordkorea für Missionierungen im Gulag landen. Aber | |
die PUST hat einen Pakt mit dem Regime geschlossen: Nordkorea lässt dort | |
die Söhne seiner Elite ausbilden, ohne einen Cent zu zahlen. Die | |
Universität wird ausschließlich von Spenden und Kirchengeldern finanziert. | |
Offiziell hat sie bislang 35 Millionen US-Dollar gekostet, wobei man mit | |
den Zahlen vorsichtig sein muss. Gleichzeitig ist es den Lehrern jedoch | |
nicht erlaubt, offen über ihren Glauben zu sprechen. Die Studenten – | |
allesamt männlich – hatten keinen blassen Schimmer, dass sie auf einer | |
christlichen Universität sind. | |
Nun haben Sie ein [1][Buch über Ihre Erfahrungen] veröffentlicht. Mit Ihrer | |
Publikation riskieren Sie die weitere Existenz der Universität, | |
möglicherweise könnten auch einige Ihrer ehemaligen Studenten Probleme | |
bekommen. Wie rechtfertigen Sie das? | |
Klar fühle ich mich schrecklich, meine ehemaligen Kollegen derart | |
hintergangen zu haben. Was die Studenten betrifft: Ich habe alle Details, | |
die sie identifizierbar machen würden, geändert. Das war mein Weg, sie zu | |
schützen. Das Ziel meines Buches ist es jedoch, die größere Wahrheit dieses | |
schrecklichen Ortes, wo 25 Millionen Menschen als Geiseln gehalten werden, | |
zu erzählen. Wenn wir diese Wahrheit nicht verbreiten, wird sich nichts an | |
dem Status quo ändern – und der ist immerhin die größte | |
Menschenrechtsverletzung der Welt. | |
Sie haben dort ein halbes Jahr lang Englisch unterrichtet. Wieso sind | |
nordkoreanische Elite-Studenten so wissbegierig, die Muttersprache ihres | |
Feindes zu lernen? | |
Das ist eine weitere Zweischneidigkeit. Praktisch niemand darf das Land | |
verlassen, von daher habe ich mich natürlich auch gefragt, wo sie das | |
Englisch überhaupt anwenden wollen. Letztendlich beweist jedoch allein die | |
Existenz der Schule, dass das Regime die Notwendigkeit sieht, mit der Welt | |
auf einer gewissen Ebene in Kontakt zu treten. Es ist fast ironisch: | |
Nordkorea lässt seine zukünftige Elite von Ausländern ausbilden. | |
Wie lief Ihre erste Unterrichtsstunde ab? | |
Sobald ich den Raum betrat, sind die Studenten aufgestanden und haben mir | |
aufmerksam zugehört. Es war ein überaus schöner Moment, weil die jungen | |
Männer dermaßen höflich und aufrichtig waren. Ich habe sie umgehend in mein | |
Herz geschlossen, was mich selbst überraschte. Auch wenn das alles 19- und | |
20-jährige Jungen waren, hatten sie keine Ahnung von der Welt da draußen. | |
Sie dachten etwa, die Leute im Ausland würden koreanisch sprechen. Sie | |
kannten nicht mal den Eiffelturm! Die Informatikstudenten hatten noch nie | |
von Steve Jobs oder Mark Zuckerberg gehört. Sie wirkten wie unberührt von | |
der Welt. Es gab aber auch eine andere Seite: Erst nach Monaten fand ich | |
heraus, dass sie ständig gelogen haben – auch über scheinbar sinnlose | |
Kleinigkeiten. | |
Worüber logen sie? | |
Es gab einen Kim-Il-Sung-Lesesaal auf dem Campus, das war wie eine Art | |
Kirche. Der Saal wurde rund um die Uhr von Studenten bewacht, auch wenn | |
draußen minus 20 Grad herrschten. Selber haben sie das jedoch niemals | |
zugegeben, dass sie den Saal bewachten – sogar nachdem ich sie dabei | |
gesehen habe. Wahrscheinlich wurde ihnen gesagt, über solche Pflichten | |
nicht zu reden. | |
Auch durften sie niemals den Campus verlassen und trotzdem sagten sie mir | |
ständig, sie würden regelmäßig mit ihren Eltern reden. Dabei war ihnen das | |
strikt untersagt. Nur einige wenige, einflussreiche Eltern konnten während | |
des Semesters für eine gute Viertelstunde am Eingangstor mit ihren Söhnen | |
reden. | |
Flüchtlinge berichten, dass ständiges Lügen Teil des Systems ist. | |
Das stimmt. Irgendwann realisierte ich, dass ganz Nordkorea eine einzige | |
Lüge ist: Alles, was sie über den Großen Führer Kim Il Sung lernen, sogar | |
wann er geboren wurde, ist falsch. In den Geschichtsbüchern wird ihnen auch | |
erzählt, dass es Südkorea und die USA waren, die Nordkorea im Koreakrieg | |
angegriffen haben. Außerdem wird gelehrt, dass nordkoreanische | |
Wissenschaftler eine Methode erfunden hätten, mit der man die Blutgruppe | |
von A nach B wechseln könnte. Es war verrückt! Einmal wollte mir die ganze | |
Klasse weismachen, dass man stärker wachse, wenn man regelmäßig Basketball | |
spiele. Als Beweis diente ihr Lehrbuch. | |
Wie ein roter Faden zieht sich das Gefühl der Paranoia durch Ihr Buch. Sie | |
waren sich nie sicher, wann Sie beobachtet wurden. Woran haben Sie das | |
festgemacht? | |
In unserem Wohnheim wohnten im Erdgeschoss Aufseher. Ihr Job war es, rund | |
um die Uhr auf uns aufzupassen. Unsere Telefonapparate, die nur zwischen | |
den Zimmern der Lehrkräfte funktionierten, wurden abgehört, denn stets | |
waren unsere Aufseher auf dem Laufenden. Auch musste in der Schule jede | |
einzelne Unterrichtseinheit genehmigt werden. Selbst vom Mittagessen haben | |
die Studenten Berichte über die Konversationen geschrieben. | |
Dennoch fanden die Aufseher nicht den USB-Stick, auf dem Sie jeden Abend | |
Ihre Notizen festhielten? | |
Am Ende hatte ich so etwa 400 Seiten zusammengeschrieben. Das meiste davon | |
waren schnörkellose Informationen, etwa worüber wir uns am Tag unterhalten | |
haben. Die emotionaleren Momente speicherte ich versteckt in anderen | |
Dokumenten, beispielsweise getarnt als Unterrichtsnotizen. Den USB-Stick | |
habe ich die gesamte Zeit über als Halskette bei mir getragen. Nach dem | |
Schreiben habe ich jedes Mal alle Notizen vom Computer gelöscht. | |
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie einem fragenden Studenten das | |
parlamentarische System erklärten. Ein anderes Mal lehrten Sie die Vokabel: | |
„zu fliehen“. Und dann schreiben Sie: „Ich hoffe, dass sie alles vergessen | |
haben und einfach Soldaten des Regimes werden.“ Wie meinen Sie das? | |
Mit der Zeit sorgte ich mich immer mehr um meine Studenten. Wir hockten | |
schließlich gemeinsam in diesem militärisch bewachten Gelände. Das schweißt | |
zusammen. Ständig trug ich jedoch ein moralisches Dilemma mit mir herum: | |
Einerseits wollte ich meinen Studenten, die damals noch nicht mal vom | |
Internet wussten, etwas von der Welt erzählen. | |
So trug ich immer meinen brandneuen Macbook bei mir, auch wenn es gar nicht | |
notwendig war. Und im Büro ließ ich während meiner Sprechstunden stets als | |
Bildschirmschoner die Skyline von Manhattan aufscheinen – damit sie sehen, | |
dass das, was ihr Land ihnen erzählt, alles Lügen sind. Aber was würde wohl | |
wirklich passieren, wenn sie an ihrem Großen Führer zweifeln? | |
Wieso blieben während Ihrer Zeit an der PUST alle anderen nordkoreanischen | |
Unis geschlossen? | |
In der nordkoreanischen Zeitrechnung war 2011 das Jahr 100, denn der | |
Kalender beginnt mit dem Geburtsjahr von Staatsgründer Kim Il Sung. Für das | |
Jubiläum ließ das Regime alle Studenten des Landes Bauarbeiten verrichten. | |
Die PUST blieb als einzige Uni in Betrieb. Da wurde mir klar, dass hier die | |
zukünftige Elite des Landes studiert. Denn wieso sollten sonst alle | |
Studenten am Bau schuften – nur diese 270 Jungs nicht? Und schon damals lag | |
der Regimewechsel in der Luft. Es kursierten Gerüchte, dass Kim Jong Il | |
krank sei. | |
An Ihrem letzten Tag in Pjöngjang wurde dann der Tod des Diktators | |
verkündet. Wie haben Sie den Moment der Verkündung wahrgenommen? | |
Mein erster Gedanke war: Wie müssen sich nur meine Studenten fühlen? Im | |
Grunde ist soeben ihr Vater verstorben. Aus Respekt vor meinen Studenten | |
ging ich in den Kim-Il-Sung-Lesesaal, wo alle getrauert haben. Ich konnte | |
sehen, wie zerrüttet jeder war. | |
Dies war Ihre fünfte Reise nach Nordkorea. Noch einmal werden Sie unter dem | |
Regime wohl kein Visum bekommen, oder? | |
Im Moment habe ich ohnehin kein großes Interesse, noch mal zurückzukehren. | |
Es hat sich ja seitdem auch nichts verändert! Gar nichts. Alles, was ich | |
über Nordkorea weiß und sagen wollte, steht in dem Buch. | |
9 Dec 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.sukikim.com/ | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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