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# taz.de -- Wahlmüdigkeit: „Als stolze Parlamentarier rausgehen“
> Der Kieler Landtag debattiert über Politikverdrossenheit und darüber, das
> Wahlrecht zu ändern. Einig wurden sich die Abgeordneten aber nicht.
Bild: Wahlplakate gelten auf Amrum als Umweltverschmutzung - in diesem Fall sin…
HAMBURG taz | In einer ausführlichen, passagenweise giftigen Debatte hat
sich der schleswig-holsteinische Landtag am Freitag in seiner letzten
Sitzung des Jahres mit Politikverdrossenheit, Vorschlägen für
publikumsnähere Wahlverfahren und unterschiedliche Vorstellungen von
Fairness in der parlamentarischen Arbeit auseinandergesetzt: Geplant waren
35 Minuten, tatsächlich dauerte die Redeschlacht knapp dreimal so lang.
Grundiert von Verletzungen aus dem parlamentarischen Geschäft war ihr
Auslöser ein Antrag der Koalitionsfraktionen von SSW, Grünen und SPD,
Maßnahmen gegen den Rückgang der Wahlbeteiligung zu prüfen. Dessen
Zielsetzung wurde einmütig gelobt, auch wenn FDP und CDU ihm nicht
beigetreten waren – und die Piratenfraktion einen eigenen Vorschlag
eingebracht hatte. Die Einzelheiten sollen im Ausschuss erarbeitet werden.
In einem eher präsidial gehaltenen Beitrag warnte Ministerpräsident Torsten
Albig (SPD) davor, die Schuld an der Wahlmüdigkeit allein im Parlament zu
verorten. Es könne nicht sein, dass Kommunen wie die Orte der Insel Amrum
Wahlplakate für Umweltverschmutzung halten – und verbieten würden. „Das
sind Hinweise auf das Hochamt der Demokratie“, so Albig. Man dürfe sich der
Politik und der politischen Arbeit nicht schämen. „Wir müssen schon
rausgehen als stolze Parlamentarier.“
Schleswig-Holstein hat traditionell eine der schwächsten Wahlbeteiligungen
in Deutschland. Einen neuen Tiefststand erreichte man bei der Kommunalwahl
2013 mit 46,7 Prozent, mit 43,3 Prozent Beteiligung lag man fünf Prozent
unterm Bundesschnitt bei den Wahlen zum Europaparlament im Mai 2014.
Gemessen an der Dringlichkeit des Problems sind die konkreten Ideen, die
der Antrag formuliert, überraschend dünn. So regen die Regierungsfraktionen
an, zu prüfen, ob Wahllokale länger geöffnet oder Briefwahlunterlagen
automatisch mit der Benachrichtigung verschickt und politische
Veranstaltungen stärker in den Unterricht integriert werden sollten. Auch
über die Online-Wahl will man nachdenken.
Vor der warnte ausdrücklich Patrick Breyer. Der Pirat erinnerte an die
Manipulationsrisiken des Internet. Eine geheime Wahl sei online nicht zu
garantieren – und der Vorschlag daher untauglich, die Idee
verfassungswidrig. Als Auslöser der Politikverdrossenheit vermutete er
weniger die technischen Hürden der Beteiligung als die Haltung bei
Abgeordneten, „sich nichts sagen zu lassen“. Dagegen konterte SPD-Mann Kai
Dolgner, ihm sei nicht klar, worauf Breyer die Annahme gründe, zu wissen,
was die Menschen im real life so dächten. Als praktischen Rat für mehr
Bürgernähe empfahl er Breyer „vielleicht einmal ein Abgeordnetenbüro zu
eröffnen“.
„Demokratie lebt von Beteiligung“, betonte der SPD-Fraktionsvorsitzende
Ralf Stegner. Sie sei „das Beste, was unserem Land je passiert ist“. Er gab
sich regelrecht angewidert davon, dass es „bei manchen Leuten als schick“
gelte, „keinen Bock zu haben, wählen zu gehen“.
Davor, die Enthaltung aus dem politischen Denken zu verbannen und
NichtwählerInnen pauschal für dumm zu erklären, warnte Anke Erdmann: „Ich
habe schon oft Begründungen für eine Nichtwahl gehört“, so die
Grünenpolitikerin, „die überzeugender und reflektierter waren als so manche
Wahlentscheidung.“
Ein wichtiger Hinweis, zumal in Schleswig-Holstein. Tatsächlich war mit
Erich Mühsam einer der bedeutendsten politischen Denker des Landes ein
ausgemachter Gegner des „Humbugs der Wahlen“. Diese nämlich entschieden
bloß darüber, ob „wir weiterhin blauschwarze Tinte saufen müssen oder […]
uns an einer rötlich-gelben Melange den Magen verderben dürfen“, schrieb
der vor 70 Jahren von den Nazis ermordete, in Lübeck aufgewachsene
Anarchist 1912 mit sarkastischer Komik. „Kurz und gut: Es geht um die
letzten Dinge.“ Wie eine ferne Replik darauf wirkten Passagen aus Albigs
Rede. „Ich kann das alte Lied nicht mehr hören, dass Wahlen nichts ändern
würden“, rief er. Natürlich sei es entscheidend, wer gerade die Regierung
stellt, behauptete der Ministerpräsident.
14 Dec 2014
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Politikverdrossenheit
Demokratie
Schleswig-Holstein
Landtag
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