# taz.de -- Warten auf Genesung: 35 Quadratmeter in Neukölln | |
> Walid Al-Abdullah verließ als einer der ersten Soldaten die syrische | |
> Armee, um gegen das Regime zu kämpfen. Nun ist er in Berlin. | |
Bild: Regimetreue Soldaten kicken in Homs | |
Der Mann ist viel zu groß für diese Wohnung. Das sieht man schon, wenn er | |
noch sitzt auf dem zum Bett hergerichteten Schlafsofa, das fast ein Viertel | |
des Einzimmerappartements einzunehmen scheint. Wenn er sich dann | |
hochwuchtet auf seine Krücken, überragt Walid Al-Abdullah die meisten | |
anderen Leute um gut einen Kopf, und in der Breite überragt er sie auch. | |
Dass der Hüne sich mithilfe der Krücken überhaupt wieder selbst fortbewegen | |
kann, verdankt er Ärzten im brandenburgischen Bad Saarow, die seine | |
weggeschossenen Schienbeine operierten, weggeschossen im Februar 2012 in | |
Baba Amr, einem Stadtteil der westsyrischen Metropole Homs. | |
Eine mehr als zweijährige Odyssee führte den heute 30-jährigen Syrer danach | |
von Homs in die Einzimmerwohnung in Neukölln, eine Odyssee, die mit dem | |
Transport des schwer Verletzten durch einen drei Kilometer langen, | |
staubigen Tunnel begann, ihn dann mit entzündeten Wunden auf dem Rücksitz | |
eines Motorrads in den Libanon führte, wo Ärzte mit 14 Operationen in zwei | |
verschiedenen Krankenhäusern seine Verletzung wahrscheinlich eher | |
verschlimmerten, wie Al-Abdullah heute weiß. Youtube-Videos zeigen ihn dort | |
im Krankenhausbett, lange Schrauben ragen aus seinen merkwürdig kurzen | |
Unterschenkeln. Hätte er damals stehen können, wäre er wohl um einiges | |
kleiner gewesen als jetzt. | |
Es gibt auf Youtube viele Videos von Walid Al-Abdullah, den seine Freunde | |
Abu Arab nennen. Das erste davon stammt vom August 2011 und ist der Grund | |
für alle späteren: Es zeigt den damals 27-Jährigen in der Uniform der | |
syrischen Armee, zwei Sterne zieren seine Schulterklappen, ein goldener | |
Adler seine Brust. Al-Abdullah war Oberleutnant der Luftwaffe, | |
Fallschirmspringer. In dem Video hält er seinen Soldatenausweis in die | |
Kamera und erklärt seinen Austritt aus der Armee Baschar al-Assads. | |
Die ihm in Homs die Beine zerschossen, waren Abu Arabs frühere Kameraden, | |
Banknachbarn vielleicht auf der Militärakademie oder Bettnachbarn in | |
Armeestuben – diejenigen, die dem Assad-Regime treu geblieben waren. Dass | |
er zur Armee gehen wollte, erzählt er, stand für ihn schon als Junge fest: | |
Fallschirmspringer wollte Al-Abdullah werden, schon als Kind, als er in | |
einem Dorf nahe der ostsyrischen Stadt Deir al-Sor aufwuchs, als viertes | |
von dreizehn Geschwistern. Der Vater betrieb neben seiner Arbeit als | |
Angestellter einen kleinen Bauernhof, Getreide und Baumwolle wurden zum | |
Verkauf angebaut, Obst und Gemüse für den Eigenbedarf, die Kinder halfen im | |
Garten und auf den Feldern. Politik, sagt Abu Arab, sei in seiner Familie – | |
sunnitische Araber – kein Thema gewesen. Erst als er zur Armee kam, als | |
Schüler an der Militärakademie nach dem Abitur, habe er verstanden, wie | |
ungerecht es in Syrien zugeht: „Die Menschen wurden ungleich behandelt“, | |
sagt Al-Abdullah: „Wer dem Regime und den Assad-Leuten nahestand, wurde | |
bevorzugt.“ | |
Der Entschluss, die Armee zu verlassen, fiel 2011, kurz nach Beginn der | |
syrischen Revolution. Die hatte in Daraa begonnen, in Südsyrien: Dort war | |
der junge Leutnant damals mit seiner Einheit stationiert – und sollte nun | |
gegen die Demonstranten eingesetzt werden. „Soldaten verteidigen ihr Land“, | |
sagt Abu Arab, „aber sie kämpfen doch nicht gegen ihr eigenes Volk. Wäre | |
ich bei der Armee geblieben, hätte ich meine Landsleute töten müssen.“ Er | |
nahm Kontakt zu den ersten Deserteuren auf, damals einer Gruppe von etwa | |
fünf Personen, die sich in Baba Amr versteckt hielten, und desertierte: „In | |
einer Sporttasche habe ich meine Waffen und meine Uniform mitgenommen“, | |
erzählt er, „und bin mit dem Bus nach Homs gefahren.“ Schon auf der Fahrt | |
habe ihn sein vorgesetzter Offizier auf dem Handy angerufen, um ihn zu | |
überreden zurückzukommen: „Sie haben mir alles versprochen!“, erzählt Abu | |
Arab fast vergnügt: „Aber ich wusste, wenn ich umkehre, werden sie mich | |
hinrichten.“ | |
So stieß der ehemalige Regierungssoldat zum Kern der späteren Freien | |
Syrischen Armee (FSA), die gegen das Assad-Regime kämpft. Mit der | |
Veröffentlichung der Videos der Desertierten hofften sie, weitere Soldaten | |
zum Seitenwechsel zu bewegen: „Wir haben damals gedacht, es würde vier oder | |
fünf Monate dauern, bis so viele Leute die Armee verlassen haben, dass das | |
Regime einsieht, dass es etwas ändern muss.“ Politische Ziele außer mehr | |
Rechten und Freiheiten für die Bevölkerung hatte er nicht, sagt Abu Arab: | |
„Keiner dachte anfangs daran, Assads Rücktritt zu fordern. Wir wollten | |
aber, dass er korrupte und grausame Mitglieder seiner Regierung und der | |
Verwaltung entlässt.“ Zudem gab es die Hoffnung auf Unterstützung durch den | |
Westen: „Wir hatten ja gesehen, dass die Bewegungen des Arabischen | |
Frühlings in anderen Ländern Zuspruch und Hilfe bekam.“ Doch die Hilfe | |
blieb aus. | |
Unterstützung bekamen die früheren Armeesoldaten von der Zivilbevölkerung, | |
die sie mit Geld, Lebensmitteln und später auch medizinischer Hilfe | |
unterstützte. Anfangs hätten sie nicht gekämpft, sagt Abu Arab, aber: „Die | |
Armee und die Schabiha [irreguläre Terrormilizen des Regimes, taz] haben | |
die friedlichen Demonstranten provoziert und angegriffen. Wir haben sie | |
beschützt und verteidigt.“ Dass er damit dann doch auf seine eigenen | |
Landsleute schießen musste, erklärt der Soldat mit Kriegslogik: „Wenn wir | |
sie nicht getötet hätten, hätten sie uns getötet.“ Als Homs 2012 vom | |
Assad-Militär belagert und angegriffen wurde, schützte Abu Arab mit anfangs | |
150 Kämpfern ZivilistInnen, die sich vor den Angriffen der Armee versteckt | |
hatten. „Wir haben die Leute gefragt, ob wir gehen sollen, damit es keine | |
Kämpfe gibt – oder ob sie wollen, dass wir sie verteidigen. Darum haben sie | |
uns gebeten“, sagt er. Am Ende der Kämpfe waren von seinem Trupp noch vier | |
am Leben, Abu Arab selbst war schwer verletzt. Seine Odyssee begann. | |
Seit Februar 2014 lebt Al-Abdullah in Berlin, nach einem Zwischenstopp in | |
Istanbul, wo seine Beine ein weiteres Mal operiert wurden. Die Ärzte dort | |
empfahlen ihm die orthopädische Spezialklinik in Bad Saarow, das Free | |
Syrian Government in Berlin kümmerte sich um Visum und Flug. Als klar | |
wurde, dass die Freie Syrische Regierung nicht für die hohen Kosten seiner | |
Behandlung aufkommen kann, beantragte Abu Arab Asyl. Seit August ist er | |
anerkannt. Einen Anwalt hat er nicht gebraucht. | |
Von Berlin hat der Exsoldat außer ein paar Behörden und arabischen | |
Restaurants auf der Sonnenallee bislang nicht viel gesehen – dazu ist sein | |
Bewegungsvermögen noch viel zu eingeschränkt. Der Mann, der in Syrien ein | |
Held war, verbringt seine Zeit meist auf dem Schlafsofa seiner | |
Einzimmerwohnung, die er sich mit einem Freund und Gefährten teilt: Abid Al | |
Ali, ein ehemaliger Sanitäter der Assad-Armee und ebenfalls desertiert, | |
wurde ihm von der FSA nach seiner Verletzung zur Seite gestellt und hat Abu | |
Arab auf dessen Odyssee begleitet und gepflegt. Auch er hat Asyl bekommen. | |
Doch während für Al Ali feststeht, dass er in Deutschland bleiben will, hat | |
Abu Arab andere Pläne. Er sei Deutschland sehr dankbar, sagt er – und es | |
ist ihm wichtig, dass dieser Satz in diesem Text steht. Aber wenn er gesund | |
sei, fügt er an, wolle er zurück nach Syrien. | |
Dass die Freie Syrische Armee dort, mittlerweile angewachsen auf über | |
50.000 Kämpfer, immer noch mit mehr oder weniger Unterstützung aus dem | |
Westen kämpft, dass der Westen sein Augenmerk fast ausschließlich auf die | |
Terrorarmee „Islamischer Staat“ richtet, ärgert ihn, lässt ihn aber nicht | |
verzweifeln: „Wir müssen wieder ganz neu anfangen“, sagt Abu Arab. Dass die | |
FSA – die auch gegen den IS kämpft – vom Westen im Stich gelassen werde, | |
treibe die Menschen in die Arme der IS-Truppen, die ihren Kämpfern Sold | |
bezahle. Letzten Endes, glaubt er, dienten die Horrortaten des IS dem | |
Diktator Assad, der vielen im In- und Ausland nun als kleineres Übel | |
erschiene: „Die Menschen haben vergessen, was unsere wirklichen Probleme | |
und die Ziele der Revolution in Syrien waren“, sagt er. Um das zu ändern, | |
will der Mann, der dort eine Symbolfigur der Revolution war, zurück in | |
seine Heimat. | |
Mindestens zwei Operationen hat Abu Arab noch vor sich. Die Ärzte in Bad | |
Saarow haben seine Schienbeinknochen verlängert. Sie müssen aber erneut | |
gebrochen werden, um gerade zusammenzuwachsen. Zwei Jahre etwa brauche die | |
vollständige Genesung noch, sagte ihm sein Arzt. | |
Dass Abu Arab je wieder Soldat sein wird, das ist nicht wahrscheinlich. | |
17 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Alke Wierth | |
## TAGS | |
Bundesgerichtshof | |
EuGH | |
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