| # taz.de -- Das kreative Potenzial einer Klinik: Aus dem Schatten | |
| > Mit dem Modellprojekt „Kulturstation“ lassen zwei | |
| > Kulturwissenschaftlerinnen die Patienten Fähigkeiten jenseits aller | |
| > Diagnosen entdecken. | |
| Bild: Will einen anderen Blick auf die Patienten werfen: Marie Beisert. | |
| HILDESHEIM taz | Eine Brille liegt im Vordergrund der Fotografie. Durch | |
| ihre Gläser ist die Welt nur verschwommen zu erkennen. Die Menschen werden | |
| zu Schatten, die erst noch scharf gestellt werden müssen – wenn der | |
| Richtige die Brille aufsetzt. | |
| „Darum geht es hier: die Menschen scharf zu stellen“, sagt Marie Beisert. | |
| Die Fotografie mit der Brille ist Teil einer Foto-Ausstellung, in der sich | |
| Bewohner künstlerisch mit ihrem Klinikalltag auseinandergesetzt haben. | |
| Einer hat seine Schuhe fotografiert, mit Hundescheiße daran. | |
| Beisert ist keine Scharfstellerin, keine Ärztin, sondern | |
| Kulturwissenschaftlerin. Und damit ist die 36-Jährige einer der wenigen | |
| Menschen auf dem Gelände, die die Bewohner nicht durch die Brille ihrer | |
| Diagnose sieht. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Anna-Lisa Bister betreut sie | |
| das Projekt „Kulturstation“ am AMEOS Klinikum Hildesheim, das Bister vor | |
| drei Jahren als Modellversuch gemeinsam mit der Stiftung Universität | |
| Hildesheim ins Leben gerufen hat. | |
| „Wir wollten einen Raum schaffen, wo auf die Potenziale geschaut wird, | |
| losgelöst von jeglicher Krankheit“, erklärt Beisert. In den Projekten der | |
| Kulturstation gehe es um den Menschen „mit dem, was er mitbringt an | |
| Kreativität und Ausdruck“. | |
| Zum Beispiel im Theaterprojekt zu Shakespeares „Sommernachtsstraum“. | |
| Mehrere Monate lang hat die Theaterpädagogin Johanna Grote mit einem | |
| Ensemble aus Klinik-Bewohnern und theaterbegeisterten Menschen aus der | |
| Stadt geprobt. Ausgerechnet den „Sommernachtstraum“, Shakespeares düstere | |
| Komödie um sexuelle Verwirrungen, verschobene Identitäten und Wahnsinn an | |
| diesem Ort. | |
| Die Diagnose ihrer Schauspieler kennt Grote nicht – und will sie auch gar | |
| nicht wissen. Im Gegenteil, die Idee sei, zu hinterfragen, was eigentlich | |
| eine verrückte Weltsicht ist. „Wer ist eigentlich verrückt, wo ist es | |
| verrückt, hier oder draußen?“, fragt Grote. Der Sommernachtstraum mit | |
| seinen schier unendlichen Interpretations- und Projektionsmöglichkeiten sei | |
| für diese Fragen die perfekte Folie. Herausgekommen ist ein Theaterabend | |
| mit allen Figuren, die auch bei Shakespeare vorkommen, Handwerkern, | |
| Liebespaaren und Elfen-Schar. | |
| Ein Abend, der eine ganz eigene, von diesem Ort geprägte Version bringt. | |
| Marcel spielt den Elfen Puck. Der junge Mann lebt in der | |
| Eingliederungsstation. Wer dort wohnt, hat es fast geschafft, die offene | |
| Station bereitet die Menschen auf die baldige Entlassung vor. Den Elfen | |
| Pack habe er gespielt, erzählt Marcel. „Puck?“ „Nein, Pack“, antwortet… | |
| In der Inszenierung sei die Shakespeare-Figur in eine gute und in eine böse | |
| Hälfte geteilt worden. Er habe mit Pack die böse Seite übernommen. | |
| „Das passt gut zu mir“, sagt Marcel. Besonders der Zusammenhalt in der | |
| Theatergruppe hat ihm gefallen, auch wenn es anfangs nicht leicht gewesen | |
| sei, mit den Nicht-Klinik-Bewohnern ins Gespräch zu kommen: „Zuerst wollte | |
| keiner etwas sagen.“ Später sei man eine richtige Truppe geworden. | |
| Der langjährige Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt berge die | |
| Gefahr von Hospitalisierungseffekten, erklärt Chefarzt Udo Eesmann. Wem zu | |
| lange die Verantwortung für das eigene Leben abgenommen werde, der | |
| reduziere häufig seine Aktivitäten auf die Grundbedürfnisse. | |
| Deshalb ist Eesmann überzeugt von der positiven Wirkung der Kulturstation | |
| und ihrem Angebot: „Sie zeigt den Bewohnern, dass es auch noch Dinge | |
| jenseits der Therapie gibt, um im Leben Freude und Interesse zu empfinden.“ | |
| Von der Qualität der Ergebnisse, zum Beispiel des Trickfilm-Workshops, war | |
| er selber überrascht. | |
| „Das Potential ist groß“, sagt auch Initiatorin Anna-Lisa Bister. Unter | |
| anderem zu sehen an einer riesigen Glaswand im Sozialzentrum, hinter der | |
| sich der Swimmingpool verbirgt. Sehen kann man das Wasser allerdings nur | |
| schemenhaft, denn die Wand ist in ein modernes Kunstwerk verwandelt worden. | |
| Je ein Künstler und ein Bewohner haben sich hier gegenübergestanden, | |
| erklärt Bister. Jeder habe von seiner Seite gemalt, eine besondere Form der | |
| Kommunikation sei das gewesen. Auf dem Glas haben sich die verschiedenen | |
| Weltsichten in faszinierenden, komplexen Formen überlagert. | |
| „Die Kunst in der Klinik ist auch eine Bereicherung für die Stadt“, ist | |
| sich die 32-Jährige sicher, die für die Zukunft einen besonderen Traum | |
| hegt. Ein Künstler in Residence könnte gemeinsam mit den Bewohnern in der | |
| Klinik leben, mit ihnen gemeinsam arbeiten oder sich einfach nur bei der | |
| Arbeit zusehen lassen. | |
| In anderen Ländern gäbe es solche Modellprojekte bereits, auch für | |
| Hildesheim hätte sie schon Anfragen. Denn die Arbeit der „Kulturstation“ | |
| ist nach drei Jahren Projektarbeit noch nicht beendet. Marie Beisert und | |
| Anna-Lisa Bister überlegen, sich mit ihrer Arbeit selbstständig zu machen | |
| und das Experiment „Kunst in der Klinik“ in Hildesheim und anderen | |
| Einrichtungen fortzusetzen. | |
| 22 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Kohlmann | |
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