# taz.de -- Nach Vertreibung der IS-Miliz: Die verschollenen Jesiden von Hardan | |
> Der IS ist aus dem irakischen Hardan vertrieben worden, aber viele | |
> Einwohner werden vermisst. Frische Erdhügel lassen Schlimmes befürchten. | |
Bild: Ein Ausweis auf frisch ausgehobener Erde bei Hardan. | |
HARDAN ap | Haider Chalef ist vor vier Monaten aus seinem kleinen | |
nordirakischen Heimatdorf Hardan geflohen. Kurz darauf erhielt er | |
angsterfüllte Telefonanrufe von Verwandten, die zurück geblieben waren. Sie | |
meldeten sich bei ihm, während sie von Kämpfern der Terrormiliz Islamischer | |
Staat (IS) zu einem Kontrollpunkt nicht weit vom Dorf entfernt geführt | |
wurden. „Wenn du nichts mehr von uns hörst, dann wirst du unsere Leichen | |
nahe dem Kontrollpunkt finden“, hieß es Chalef zufolge in einem der | |
Telefonate. | |
Jetzt ist der Mann zum ersten Mal wieder zurück. Er und andere geflüchtete | |
Einwohner folgten kurdischen Kämpfern, die in der vergangenen Woche die | |
Dschihadisten aus Hardan vertrieben haben. Sie wollten herausfinden, was | |
mit Verwandten und Nachbarn geschehen ist, die nach der Besetzung des | |
Dorfes durch den IS Anfang August verschwunden sind. | |
Und nun fürchten sie, dass sie wissen, wo sich die Vermissten befinden: | |
unter vier Hügeln frisch aufgeworfener Erde. Das Ausgraben hat noch nicht | |
begonnen, aber Chalef und andere sind überzeugt, dass es sich um | |
Massengräber handelt, vielleicht mit Dutzenden Toten. Sie und kurdische | |
Peschmerga-Kämpfer haben in der losen Erde Teile von Bekleidung entdeckt. | |
Ein Reporter der Associated Press war Augenzeuge. | |
Er sah beispielsweise, wie Peschmerga am elastischen Taillenbund einer Hose | |
zogen, die anscheinend ein Begrabener trägt. Denn die Erde bewegte sich | |
deutlich, als an dem Bund gezerrt wurde – vermutlich durch das Gewicht des | |
Körpers. Die Kurden hörten dann damit auf, aus Furcht vor Sprengfallen, | |
bevor eine Leiche klar zu sehen war. Aber aus der Hosentasche fielen ein | |
paar Perlen einer Gebetskette und ein Ausweis, ausgestellt auf den Namen | |
Chero Chudeda Rufo, 44 Jahre alt. Einer der zurückgekehrten Einwohner, | |
Chaled Wase, kennt ihn: Es ist ein Nachbar, der zu den Vermissten zählt. | |
## Mehr als 500 Einwohner vermisst | |
Es lässt sich noch nicht mit absoluter Sicherheit sagen, ob es sich um | |
Gräber handelt und wenn ja, wie viele Menschen sich unter der Erde | |
befinden. Die Kurden planen nicht, sofort mit dem Ausgraben zu beginnen, | |
denn in der Nähe halten Kämpfe mit den IS-Milizionären an. Die Lage ist | |
nicht stabil genug, um sich jetzt der Suche nach Leichen zu widmen. Aber | |
Wase und Chalef sind sich nach eigenen Angaben sicher, dass hier einige | |
ihrer Lieben begraben sind. | |
„Meine Verwandten sind hier mit den anderen aus meinem Dorf“, sagt Wase. Er | |
und Chalef schätzen, dass etwa 530 Einwohner aus Hardan vermisst werden, wo | |
ungefähr 200 Familien gelebt haben. Die meisten der Verschollenen, so | |
glauben sie, sind von den Militanten getötet worden. | |
Hardan ist eines von mehreren kleinen nordirakischen Dörfern, die von | |
Jesiden bewohnt sind. Als IS-Kämpfer im August in das Gebiet vordrangen, | |
kam es zu einigen ihrer schlimmsten Gräueltaten gegen Angehörige dieser | |
religiösen Gemeinschaft, die von den Dschihadisten als Ketzer betrachtet | |
werden. Hunderte wurden getötet und ebenso viele jesidische Frauen und | |
Kinder entführt, um als Sexsklaven IS-Kämpfern und Unterstützern zu dienen, | |
wie aus von den UN und Menschenrechtlern gesammelten Berichten hervorgeht. | |
Am 3. August rollten die Extremisten nach Wases Schilderung in acht | |
Geländewagen an, unterstützt von sunnitischen Muslimen aus | |
Nachbargemeinden. Sie forderten die Einwohner von Hardan auf, alle Waffen | |
in ihrem Besitz abzugeben – sonst würden ihre Familien enthauptet. Die | |
Einwohner folgten dem Befehl. Einige flohen in derselben Nacht, so Wase und | |
Chalef. Andere waren dazu nicht in der Lage und blieben. | |
## Babyschnuller im Dreck | |
Wase flüchtete über die nahe gelegene Grenze nach Syrien. Auch er bekam | |
Telefonanrufe von Verwandten, die schilderten, dass die IS-Kämpfer sie in | |
Richtung eines Kontrollpunktes in Dorfnähe führten. Wase und Chalef haben | |
nach eigenen Angaben gehört, dass dies mit ungefähr 150 Einwohnern | |
geschehen sei. Chalef berichtet auch vom Anruf eines Cousins, der sich im | |
Dorf versteckt und eine Planierraupe gesehen habe, mit der auf nahe | |
gelegenen Feldern Erde bewegt worden sei. Ein Onkel und zwei von dessen | |
Söhnen seien unter den Vermissten – „zusammen mit 50 anderen aus Hardan, | |
die ich kenne“. | |
Kurdische Peschmerga-Kämpfer hatten Hardan am vergangenen Freitag | |
zurückerobert. Drei der vermuteten Grabhügel wurden von den geflohenen | |
jesidischen Einwohnern entdeckt, die den Befreiern folgten. Wase fand in | |
der Erde eines Hügels ein Stirnband und einen Schal, die nach seiner | |
Überzeugung Verwandten gehörten. An einer Stelle etwa 100 Meter entfernt | |
hätten Kleidung, Frauenschuhe und ein Babyschnuller gelegen. | |
Der vierten Hügel fanden Peschmerga, als sie eine Latrine graben wollten. | |
Auch sie sahen Kleidungsstücke in der Erde – so die halb verdeckte Hose mit | |
dem Taillenbund, an dem sie dann zogen. Der kurdische Kämpfer Sammy Tahar | |
glaubt ebenfalls, dass es sich um Gräber handelt. „Sie brachten diese | |
unschuldigen Menschen, die nichts anderes taten, als sich um ihre eigenen | |
Angelegenheiten zu kümmern, hierhin“, sagt der 44-Jährige. „Und dann | |
töteten sie sie.“ | |
25 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Dalton Bennett | |
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