# taz.de -- Im Visier der Schlapphüte: Sich selbst bewahrheitender Verdacht | |
> Weil er sich einmal an einer friedlichen Castor-Blockade beteiligte, | |
> geriet unser Autor in den Verdacht, Teil des „linksextremistischen | |
> Spektrums in Göttingen“ zu sein. | |
Bild: Blockierte Sicht und geschwärzte Akten: Demonstration in Göttingen 2009 | |
HAMBURG taz | Ich bin ein Feind der Demokratie. Jedenfalls befürchtet der | |
niedersächsische Verfassungsschutz, dass meine Bestrebungen gegen die | |
„freiheitliche demokratische Grundordnung“ gerichtet sein könnten. Er | |
rechnet mich dem „linksextremistischen Spektrum in Göttingen“ zu und führt | |
deswegen eine Akte über mich – seit über zehn Jahren. Das weiß ich, weil | |
ich über meinen Anwalt einen Antrag auf Akteneinsicht beim Geheimdienst | |
gestellt habe und nun gegen die Überwachung klage. Seitdem weiß ich auch, | |
wie der Verfassungsschutz auf diese skurrile Idee gekommen ist. | |
Er wurde auf mich aufmerksam, als ich mich im Herbst 2004 an einer | |
Castor-Blockade in Göttingen beteiligt habe. An der Uni hatte ich im ersten | |
Semester ein paar Anti-Atomkraft-AktivistInnen kennengelernt, einige Wochen | |
später fand ich mich auf den Bahngleisen wieder. Bis die Polizei uns alle | |
eingefangen hatte, musste der Zug eine halbe Stunde Zwangspause einlegen. | |
Das war ziemlich aufregend, aber nach meinem Empfinden nicht | |
verfassungsfeindlich. | |
Trotzdem war ich nach dieser Novembernacht nicht nur im Göttinger Tageblatt | |
abgebildet, sondern habe seitdem auch eine Akte beim niedersächsischen | |
Verfassungsschutz. | |
Darin steht, ich hätte mich „unbefugt auf dem Gleiskörper“ aufgehalten. D… | |
Polizei habe Strafverfahren gegen mich eingeleitet, wegen gefährlichen | |
Eingriffs in den Schienenverkehr. Was dort nicht steht ist, dass alle | |
Verfahren eingestellt wurden. Aus den Akten bei der Polizei ist diese Nacht | |
längst gelöscht, beim Verfassungsschutz bleibt sie auch ohne Verurteilung | |
gespeichert. | |
Und nicht nur diese Nacht: Einmal auf mich aufmerksam geworden, trugen die | |
„Verfassungsschützer“ meine Daten zusammen. Bei der Telekom-Auskunft | |
erfuhren sie meine Handynummer zwar nicht, allerdings fanden sie im | |
Internet meine E-Mail-Adresse heraus. Auch dass ich ein Gewerbe betreibe, | |
schrieben sie in die Akte. Von der Stadtverwaltung erfuhren sie auf Anfrage | |
meine Größe und meine Augenfarbe. | |
Ich war in Göttingen bei Demonstrationen gegen Nazis, Rassismus und rechte | |
Burschenschaften anwesend, das hat teilweise auch der Verfassungsschutz | |
bemerkt und in meine Akte geschrieben. Ich habe in der Uni auch mal Karl | |
Marx gelesen. Ich war im autonomen Jugendzentrum Juzi schon auf Konzerten | |
und Partys. Ich habe aber noch nie einen Stein auf wen auch immer geworfen | |
noch sonst jemandem bewusst physischen Schaden zugefügt, erst recht nicht | |
in politischen Auseinandersetzungen. Ich habe mich sogar mal öffentlich | |
gegen politisch motivierte Brandanschläge ausgesprochen. Eigentlich bin ich | |
ein recht friedfertiger Zeitgenosse. | |
Dem Verfassungsschutz ist das egal. Ihm genügt, dass meine Lebensumstände | |
„bei einer vernünftigen Betrachtung“ auf verfassungsfeindliche Bestrebungen | |
„hindeuten“ würden, um mich zu beobachten. | |
Die Schlapphüte machen es sich einfach und rechnen mich seit der | |
Castor-Blockade der „linksextremistischen Szene in Göttingen“ zu. Und deren | |
Mitglieder hätten schließlich eine „ausgeprägte Gewaltbereitschaft“, was | |
mit der „hasserfüllten Ablehnung des politischen Systems“ dreier Göttinger | |
Antifa-Gruppen belegt werden soll, zu denen ich nicht gehöre. In einer | |
Antwort auf meine Klage gegen die Geheimdienst-Beobachtung schreibt der | |
Verfassungsschutz: „Ziel derartiger autonomer Gruppierungen ist die | |
Abschaffung des Staates und seiner Institutionen und die Ersetzung durch | |
eine herrschaftsfreie Gesellschaft. Die Anwendung von Gewalt zur Erlangung | |
dieses Zieles wird dabei ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Sie richtet | |
sich damit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung.“ | |
Wie zum Beleg für meine Szenezugehörigkeit legen die Geheimdienstler | |
allerlei Flugblätter von Antifa-Gruppen in meine Akte. Eines ruft zu | |
Blockaden des jährlichen Nazi-Aufmarsches in Bad Nenndorf auf, ist aber | |
nicht einmal von einer Göttinger Gruppe unterschrieben. Ganz davon | |
abgesehen, dass ich in meinem Leben noch nie in Bad Nenndorf war. Auf einem | |
anderen sind Neonazis aus Göttingen mit Namen und Fotos abgedruckt. Unter | |
anderem von „Indymedia“ haben die Schlapphüte Berichte und Aufrufe zu | |
Demonstrationen, unter anderem der Göttinger Jugendantifa, ausgedruckt und | |
ebenfalls in meine Akte geheftet. | |
Dann steht da noch etwas in meiner Akte. Das einzige, das mir bis heute | |
immer mal wieder Kopfzerbrechen bereitet: Der Hinweis darauf, dass in den | |
Geheimdienstaufzeichnungen in Hannover noch mehr über mich steht, was er | |
mir aber nicht verraten will. Der Verfassungsschutz kann die Auskunft mit | |
der Begründung verweigern, dass er direkt gegen mich oder gegen eine Person | |
aus meinem unmittelbaren Umfeld ermittelt. Oder damit, dass die Daten von | |
einem Informanten stammen, einer V-Person des Geheimdienstes, einem | |
Spitzel, einem verdecken Ermittler. Meine Akteneinträge würden | |
„Einzelheiten zu relevanten Treffen, Zeitpunkten, Teilnehmern und sonstigen | |
weiteren Umständen“ enthalten, schreibt der Verfassungsschutz, die „eine | |
Konkretisierung, Eingrenzung und sogar Offenlegung der jeweiligen | |
Informationsquelle möglich“ machen würden. Deswegen will er sie mir nicht | |
verraten. | |
Es ist eine furchtbare Vorstellung, dass womöglich jemand, den ich kenne, | |
Informationen aus vertraulichen Gesprächen an den Verfassungsschutz | |
weitergibt. Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wer das gewesen sein | |
könnte. An was für Treffen ich teilgenommen habe, für die sich der | |
Verfassungsschutz interessieren könnte. Mir fällt alles und nichts ein. | |
Vielleicht reicht es ja schon, dass ich auf einer Party im linken | |
Theaterkeller mal mit jemandem über die letzte Demo geredet habe? Mir | |
schießen Geschichten von anderen Spitzeln durch den Kopf, die | |
Freundschaften und sogar romantische Beziehungen mit den Bespitzelten | |
eingegangen sind – so wie die gerade enttarnte verdeckt arbeitende | |
Polizistin Iris P. in Hamburg. In einem Schreiben des Geheimdienstes steht: | |
„Aus Sicherheitsgründen ist bei operativ tätigen | |
Verfassungsschutzmitarbeitern in aller Regel das Umfeld dieser Personen | |
nicht über ihre Tätigkeit für den Verfassungsschutz informiert.“ Kopfkino! | |
Horror! | |
Woher die geschwärzten Informationen in meiner Akte kommen, werde ich aber | |
wohl nie erfahren. Deswegen habe ich mich recht schnell wieder besonnen. | |
Ich will nicht, dass die Schlapphüte meinen Alltag bestimmen. Ich will mir | |
nicht vor jedem Gespräch die Frage stellen, ob mein Gegenüber mich | |
aushorcht. Wirklich sicher, dass es das nicht tut, kann ich mir nach der | |
Lektüre meiner Akte wohl bei kaum jemandem sein. Ich entscheide mich gegen | |
die absolute Paranoia und für den Versuch, dieses Wissen so gut wie es geht | |
zu ignorieren. Das funktioniert erstaunlicherweise ganz gut. | |
Ich versuche, den Verfassungsschutz über den Rechtsstaat in seine Schranken | |
zu weisen. Vor verschiedenen Gerichten klage ich auf Herausgabe der | |
geschwärzten Informationen und gegen die Beobachtung an sich. Es sind | |
langwierige Verfahren mit ungewissem Ausgang. Aber einen Versuch ist es | |
wert. Ich stehe ja noch immer unter Beobachtung – auch nach dem | |
Regierungswechsel in Hannover. | |
Der Name des Verfassers ist der Redaktion bekannt | |
11 Jan 2015 | |
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