# taz.de -- Kolumne Unter Schmerzen: Kommt Zeit, kommt Asymptomat | |
> Irgendwann wird es Genbehandlungen geben. Und heilbare Bandscheiben. Und | |
> keine Rollstühle mehr. Es lebe der medizinische Fortschritt! | |
Bild: In der Röhre (in der Melodie von „In the Navy“ zu singen). | |
In der Neurochirurgie geht die Sonne auf. Sie scheint durchs Fenster in den | |
Warteraum. Eine Neonröhre zwinkert, die Sonne geht bald schon wieder unter. | |
Aber am schönsten ist immer der Moment, in dem das Schmerzmittel zu wirken | |
beginnt. | |
Mein Neurologe ist so der Typ Heinz Erhardt. Er hat diese gewisse | |
preußische Schrulligkeit und das schalkhafte Lächeln. Angegraute Haare in | |
einer zeitlos zu nennenden Fünfziger-Jahre-Frisur. Starke, dicke Brille. Er | |
ist mit Radiologen befreundet, die ihm nach Feierabend ihr neues MRT | |
vorführen wollen, und er legt sich dann gleich mal zur Probe in die Röhre. | |
Kommt raus, er hat auch einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule, | |
merkt aber nichts. Asymptomatisch nennt er das, ein Zustand, um den ich ihn | |
sofort beneide, der für mich aber auch erreichbar ist, wie er sagt. Kommt | |
Zeit, kommt Asymptomat. | |
So ein Bandscheibenvorfall ist ja nicht per se heilbar. Da wird nichts | |
wieder gut. Die Bandscheibe ist halt kaputt, durch, weg. Es gibt Versuche, | |
sagt der Neurologe, leibeigenen Knorpel zu züchten und dort einzusetzen, | |
das hält meistens aber nicht lange. Ein Jahr oder so. | |
In Japan hat man die Bandscheiben von jungen Verkehrsopfern in | |
Rückenleidende transplantiert. Das hat auch geklappt, sagt der Neurologe | |
begeistert, allerdings müssen die Patienten ordentlich Medikamente | |
schlucken, damit die Abstoßung des Fremdkörpers unterbunden wird. Wie bei | |
transplantierten Nieren oder Lebern. Auch kein Vergnügen. | |
Eines Tages, schließt er, wird es eine Genbehandlung geben. Da wird Ihnen | |
was injiziert, und Sie bilden aus sich heraus eine neue Bandscheibe. | |
Es lebe der medizinische Fortschritt! | |
Ja, sage ich, das klingt wundervoll, wirklich. Ich kann es kaum erwarten. | |
Eine Welt ohne Rollstühle, ohne Pandemien, ohne Organhandel. Eine Welt, in | |
der man den Todeszeitpunkt selbst auswählen kann, gesetzt, die Menschheit | |
bekommt auch Unfälle und Konflikte in den Griff. Eine schöne neue Welt. | |
Aber wir leben in Zeiten, wo sich Kreationismus und Esoterik ausbreiten, wo | |
gemeine Kinderkrankheiten zu Epidemien ausarten, weil Eltern sich | |
medizinkritisch geben wollen und einfaches Impfen unterlassen. Was würde | |
ich darum geben, gegen all den Schlamassel des Bios geimpft worden zu sein! | |
(Masern hatte ich auch schon mal, irgendwann 1975 oder so. Mein Impfpass | |
ist später leider in den Wirren des Scheidungskriegs meiner Eltern verloren | |
gegangen.) Unglück gibt es auch so noch genug da draußen, schauen Sie sich | |
an, wie krank die Welt ist. Sage ich dann nicht, aber der Neurologe und ich | |
verstehen uns auch so. | |
Mein Neurologe fährt seine große, überraschend patschige Hand in Richtung | |
der meinen aus. Mein Vorfall wird sich zurückbilden, verabschiedet er sich. | |
Es ist nur eine Frage der Zeit. Da ich keine Lähmungserscheinungen habe, da | |
es keine Raumnot gibt, wie sich der Neurologe so schön poetisch ausdrückt, | |
werden wir mit Schmerzmitteln und manueller Therapie weitermachen. Die neue | |
Verordnung kommt gleich bei der Sprechstundenhilfe aus dem Drucker. Danke | |
schön, guten Tag. | |
27 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Rene Hamann | |
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