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# taz.de -- Buch über Dutschke-Briefwechsel: „Schnauze halten!“
> Am 7. März wäre Rudi Dutschke 75 geworden. Kurz vor seinem Tod schrieb er
> mit Dichter Peter-Paul Zahl über Kindheit, Deutschland – und die taz.
Bild: Dutschke am 6. März 1968 in der Halepaghen-Schule im niedersächsischen …
Ende der 70er Jahre waren die beiden Leuchtfiguren der Linksalternativen:
Peter Paul Zahl und Rudi Dutschke. Zahl saß damals im Gefängnis in Werl, zu
maßlosen 15 Jahren verurteilt, weil er bei einer Kontrolle auf einen
Polizisten geschossen hatte. Er war der Subversive, der im Knast Gedichte
schrieb. Sein Lyrikband „alle türen offen“ hatte in der Szene Kultstatus.
Dutschke erschien den jüngeren Linksradikalen damals wie eine Märchenfigur
– eine Legende, jemand der mit verstörender Ernsthaftigkeit Geschichte
verkörperte. Er war ein Symbol. Er war die authentische Verkörperung der
Revolte von 1967, anders als jene, die in die sektiererischen K-Gruppen
gelandet waren. Dutschke erschien den Jüngeren als Autorität – kurios,
ausgerechnet er, der Anitautoritäre.
Rudi Dutschke korrespondierte von 1978 bis zu seinem Tod im Dezember 1979
regelmäßig mit Zahl. Der Briefwechsel kreist – natürlich – um Politik, a…
nicht nur. Es geht auch um Erinnerungen an die Kindheit. Beide wurden im
Osten groß und Zahl beschreibt seine Kindheit in Feldberg, nordöstlich von
Berlin, als reines Idyll.
„Kinderqual und Zwangsmaßnahmen, in Deutschland Pädagogik geheißen,
entfielen nahezu völlig – die wenigen Ausnahmen trafen um so mehr, denn
Kinder sind todwund und tieftraurig, werden sie von den geliebten Großen
enttäuscht; in der Volksschule unterrichteten uns nur junge,
begeisterungsfähige und gute Lehrer – die damalige SBZ hatte alle alten
Nazis aus dem Schuldienst gefeuert –, vermittelten Wissen fast unbemerkt
und zwanglos: Laotse und Brecht sagen zu Recht, die besten Regierungen sind
die, deren Anwesenheit der Bürger nicht spürt. Unsere Bahnhofsstraßenbande,
die sich fröhliche und harmlose Keilereien mit Ostberliner Ferienkindern
(Berliner Treppenscheißern) lieferte; Geburtstage, an denen ich aus dem
Wohnzimmerfenster direkt in die Frühlingssonne sprang, Laterna Magikas,
Pferdeställe und Scheunen, in denen wir unsere ersten sexuellen
Expeditionen unternahmen, Roggenbrötchen mit Butter, selbstgemachte
Marmeladen, Butterbirnen und krachende Äpfel, heiße Sommer und tiefe,
verschneite, kalte Winter in denen wir auf selbstgefertigten Schiern bis in
die Abenddämmerungen in den Hügeln strolchten. Bücher: hol dir, was du
lesen möchtest; was du nicht verstehst, was dir keinen Spaß macht, legs
zurück und hols dir ein paar Jahre später. Eine glückliche, erfüllte, eine
liberal bürgerliche Kindheit. Werte wurden, da glaubwürdig, da vorgelebt
vermittelt, problemlos verinnerlicht: hilf den Schwachen; wirst du
geschlagen, schlag zurück; sei fair, nicht selbstmitleidig; kämpf, wird dir
Unrecht angetan; schaff dir gute Freunde, sei tolerant; nimm dir, was dir
Spaß macht, wenn es keinem schadet … Da war Erziehung kaum spürbar, da gab
es keine Dressur.
Und dann kam der Schock für den neunjährigen Peter Paul – der Umzug in den
Westen.
„1953 mußten meine Eltern in den Goldenen Westen fliehen. Sie wurden
Nigger, Gastarbeiter der 50er Jahre, waren Flüchtlinge, Mindestens fünf
Jahre lang lebten wir in Armut. Ich wurde als Kind nicht nur in ein anderes
Land verschleppt, ich stürzte nicht nur aus einer Klasse in die andere,
unten, ich erlitt das, was Anthropologen und Ethnologen wohl Kulturschock
nennen.
Heimat oder auch nur ein Land, das ich lieben könnte, wurde mir die
Bundesrepublik nie. Es ist mir unmöglich, einen demokratischen Patriotismus
zu vertreten, den einst ein Heinrich Heine forderte - der es aus nur zu
gutem Grunde vorzog, nicht in diesem Lande zu wohnen.“
Wer aus einem anderen Sternensystem in dies Land geschleudert wurde, wer
das Unglück hat, ungemein demokratisch sensibilisiert zu sein, wer denken
kann und dies Land, so wie es ist, mit seinen Möglichkeiten vergleicht,
seinen Versprechungen, dem, was in diesem Lande geflissentlich unterdrückt
wird – dem Bilde des Besseren Deutschland von den Bauernkriegen über die
48er Revolution bis hin zur Antiautoritären Revolte der 60er Jahre dieses
Jahrhunderts – , der kann das Wort Deutschland nur mit einem assoziieren:
mit Angst.
Rudi Dutschke war ebenfalls im Osten, in Luckenwalde, groß geworden und
1961 mit 21 Jahren in den Westen gegangen – allerdings aus freien Stücken.
Zahls euphorische Erinnerung an die DDR-Provinz kann er nicht so richtig
teilen:
„Überraschend ist für mich Deine Erfahrung mit der Schule in der DDR.
Höchstwahrscheinlich bist Du 1950 eingeschult worden und hast die dritte
Klasse 1953 verlassen müssen. In unseren Luckenwalder Schulen, und da haben
wir wiederum eine sehr verschiedene Lebenserfahrung, würde von den älteren
Lehrern kräftig geschlagen, noch mit dem Stock auf die Finger. Die
jüngeren, zutiefst autoritär, standen jahrelang dem nicht nach. Als in den
50ern die kräftigen Schläge auf die Finger aufhörten, hörte nicht im
geringsten die stinkalte, autoritäre Pädagogik auf. Als Musiklehrer (!!!)
hatten wir einen ehemaligen NSDAPler – natürlich „entnazifiziert“. Ich
hatte kaum angefangen mitzusingen, brüllte er genüßlich und aggressiv:
„Dutschke, Schnauze halten!“ So kam ich mit Musik nie in ein natürliches
Verhältnis. An ihre Stelle trat eine extreme Beziehung zum Sport- und
Sprachtraining (für eine Karriere im Sportjournalismus). Hat mir später
jedenfalls geholfen. Wie viele andere Beispiele könnte ich Dir da erzählen,
bis zum Abitur, 1958, usw.
„Dein Verhältnis zur Familie ist mit meinem schwer zu vergleichen. Die
bäuerliche Tradition kennt sicherlich eine gewisse Wärme, allerdings ist
diese immer vermittelt, begründet und beschränkt über die reale Lage auf
dem Lande. Auf keinen Fall kann ich auf eine „liberal-bürgerliche Kindheit“
zurückblicken wie Du, mußte viel arbeiten, schließlich hatten wir einige
Hektar in Kolzenburg; die Kartoffeln, Mohrrüben und das Getreide fielen ja
schließlich nicht vom Himmel. Doch ich glaubte fest an Jesus Christus.
Meine drei Brüder waren schon in der Ausbildung, so hatte ich mich halt oft
allein mit dem Wagen und unserem Hund in Bewegung zu setzen. Lese- und
Sportzeit, jenseits der für die Schule, mußte ich durch kleinere Tricks
erschleichen (den Einkauf oder den Weg nach Kolzenburg hinausschiebend).
Manche Stunden für den Sportplatz erwarb ich mir, indem ich die Mutter
durch falsche oder echte Tränen becircte. Du siehst, wie Deine Briefe mich
anregen.
Mit Deinem Pädagogik-Verständnis bin ich von A bis Z einverstanden, die
Aussage von Dir über die Kinder berührte mich direkt. Jeder Vater von
Kindern, nicht nur die Mutter, muß sich, wenn er kann, so die Frage
stellen.“
Politisch umkreisen die Briefe den Hungerstreik, RAF, das Verhältnis zur
DDR, die Frage, ob der Faschismus in Westdeutschland eine Gefahr ist – Zahl
sieht diese Tendenz stärker, Dutschke weniger. Der Tonfall ist nicht
aufgeladen – beide sind neugierig, die Argumente des anderen zu verstehen.
Und beide sehen sich in einer ähnlichen politisch-biographischen Situation:
Sie sichten die Reste der Revolte der späten 60 Jahre und suchen nach Wegen
daran anzuknüpfen. Formt sich aus den Resten der Bewegung, von DKP über
Maoisten, von Jusos bis Spontis, etwas Neues - das ist der rote Faden. Die
Hoffnung richtet sich auch auf die taz, damals noch ein schemehaftes
Projekt.
Am 10. April 1978 schreibt Dutschke, der damals noch in Dänemark lebt, an
Zahl.
„Zur Zeit existiert keine autonome Oppostion im Lande – die Herrschenden
und ihre Zwischenhändler haben uns ziemlich unter Kontrolle. Ohne jeden
Zweifel: Wir brauchen in der BRD eine Tageszeitung. Die auf die Beine zu
stellen wird nicht leicht sein.“
Der größte Graben zwischen Zahl, dem feinnervigen Militanten, und Dutschke,
dem Aktivisten auf der Suche nach einer zivilen Bewegung, ist die Sicht auf
Deutschland und Osteuropa. Dutschke träumt von der
demokratisch-sozialistischen Befreiung von West- und Ostdeutschland.
Zahl hält das für abwegig. „Für mich gibt es keine deutsche Frage. Keine
nationale Frage. Es gab ja nie eine deutsche Identität. Oder soll ein
vernünftiger Mensch etwa ein Verhältnis haben zu diesem künstlichen, von
den Herren Bismarck und Co. zusammengestoppelten, zusammengekloppten
künstlichen Gebilde unter der Hegemonie des deutschen Ungeists, Preußens?“
So sehen es Ende der 70er Jahre, auch noch bis 1989, viele undogmatische
West-Linke: Deutschland ist bestenfalls kein Thema. Dutschke hingegen
vertritt die Idee, dass die Linke nicht nur den US-Imperialismus im Blick
haben muss, sondern auch den sowjetischer Provinenz.
Er argumentiert:
„Neben der allgemeinen Lohnsklaverei in Westeuropa haben wir von der DDR
aus Osteuropa, unter der Vorherrschaft des asiatischen Imperialismus der
russischen herrschenden Bürokratie haben wir allgemeine Staatssklaverei.“
Dutschke engagiert er sich Ende der 70er Jahre für den Dissidenten Rudolf
Bahro, der in DDR in Haft ist. Am 5. August 1978 versucht Dutschke Zahl die
Notwendigkeit einer „Helsinki Gruppe in der BRD“ klar zu machen, die
Menschenrechtsarbeit im Ostblock unterstützt. Die sei „beileibe keine
Absurdität. Habe darüber mit Erich Fried in London diskutiert. Es bedarf
einer neuen Kombination von von aus- und inländischer Aufklärung inner- und
außerhalb des Landes. Die Wichtigkeit einer Tageszeitung bei uns im Lande
BRD ist ohne jeden Zweifel für mich“.
Dutschke erhofft von der taz einen kritischen Kurs, der sich sowohl an den
Westen als auch an den Osten richten sollte.
Zahl hält diesen Fokus für falsch: „Wenn von Dir die Rede ist, dann oft
achselzuckend als dem, der „ein bißchen viel über asiatische Despotie und
DDR und so redet“. Und daran, meine ich, ist etwas Wahres. So klar es ist,
daß wir uns für »die drüben« einsitzenden Genossen einsetzen, jeden Ansatz
von proletarischer Initiative unterstützen, so sehr ist uns aber auch die
Problematik, über die Du oft reflektierst, einfach fremd.“
Der Kern von Zahls Aversion gegen Dutschkes Engagement für die Oppostion in
der DDR ist nicht der reale Sozialismus, den er verachtet – es ist die
Befassung mit Deutschland:
„Ich schäme ich mich seit 1953 des »Deutschseins« und wäre auch und gerade
heute froh darüber, adoptierte mich ein Altgenosse aus einem anständigeren
Land …“
Zahl wird 1982 nach Verbüßung von zwei Drittel der Strafe entlassen. Und
kehrt dem verhassten Deutschland den Rücken. 1985 zieht er nach Jamaika.
Dutschke unterstützt 1979 die Grünen in Bremen, die dort bei der
Landtagswahl erstmals in ein Parlament einziehen.
Menschenrechte, das Ende der Ost-Westspaltung, Ökologie, die Grünen als
neuer Spieler im Parteiensystem – Ende 1979, kurz vor seinem Tod, denkt
Dutschke über die Themen nach, die das kommende Jahrzehnt mitbestimmen
werden.
7 Mar 2015
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Studentenbewegung
Rudi Dutschke
Depression
USA
Grüne
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