# taz.de -- Russischer Film „Leviathan“: Zeit der siegreichen Niedertracht | |
> Haus weg, Kind weg, Frau weg, Freund weg: Andrej Swjaginzews „Leviathan“ | |
> erzählt eine düstere Parabel aus der russischen Provinz. | |
Bild: Hat keine Rechte und wird nie welche haben: Kolja (Alexei Serebrjakow) in… | |
Jemanden in die Mangel nehmen heißt im Jargon dieses Films ihn „bei seinen | |
Fabergés packen“. Dmitri (Wladimir Wdowitschenkow) ist Mitglied der | |
Moskauer Anwaltskammer, steht also weit oben im landesinternen | |
Justiz-Ranking und hat genau das vor: Er ist aus der Metropole bis an die | |
Barentssee gekommen, um Kolja (Alexei Serebrjakow), mit dem er einst seinen | |
Wehrdienst absolviert hat, nun im Kleinkrieg gegen den lokalen | |
Bürgermeister beizustehen. | |
Denn dieser – ein kleiner aufgedunsen-feist-dreister Typ mit schiefen, | |
wehmütigen, stechenden Augen und einer eher versoffenen Fresse – tut, was | |
er will, und in diesem Fall will er Kolja enteignen. Dessen Haus steht auf | |
einem schönen Fleck Land, gleich am Meer. | |
Das entsprechende Urteil fällt früh. Verlesen wird es (in der buchstäblich | |
atemberaubendsten Szene des Films) von der gut gebrieften, eiskalten | |
Richterin und in Anwesenheit der gekauften Staatsanwältin, der man ihr | |
leibliches Wohl ansieht. Kolja und seine Frau Lilja (Jelena Ljadowa) sind | |
danach am Ende, während für den Freund aus Moskau der Kampf um | |
Gerechtigkeit erst so richtig beginnt. | |
Fabergés sind im Auftrag des Zaren hergestellte schmucke, filigrane, meist | |
goldige Prunk-Eier, die zu Ostern, dem höchsten Fest der orthodoxen Kirche, | |
verschenkt werden, mit drei Küssen obendrauf. Geht es nach Dmitri, der gut | |
vorbereitet ist und einen ganzen Koffer mit belastendem Material gegen den | |
Bürgermeister dabei hat, sollen diese kostbaren Teile also krachen, und mit | |
ihnen die Potenz des Willkürherrschers. Doch leider scheitert der besonnene | |
Anwalt in dieser Sache, und mit ihm sein cholerischer Mandant. | |
Die Gewalt des Souveräns hingegen triumphiert. Der Bürgermeister demoliert | |
Koljas Haus (das dieser mit seinem Vater und für seinen Sohn gebaut hat) | |
und errichtet sich selbst einen Palast. Überraschenderweise keinen | |
irdischen, sondern einen göttlichen. Seine Fabergés sind heil; gefolgt von | |
Gattin und männlichem Erbfolger schreitet er die Treppe einer strahlend | |
weißen Kirche herab. Gleich neben ihm: der örtliche kirchliche | |
Würdenträger. Dahinter das fromme Volk. Glocken frohlocken. In schwarzen | |
Edellimousinen rauscht die Obrigkeit gelassen ab. | |
## Ins Gesicht gespuckt | |
Wie sich einst Monarchie und Orthodoxie miteinander verbanden, so reichen | |
sich auch im „heiligen Russland“ von heute Staat und Kirche absolutistisch | |
die Hände. Nicht zum Wohl der Untertanen, sondern in ganz anderer Mission: | |
beim grausamen Vernichtungsfeldzug gegen den einfachen Bürger. Denn Kolja, | |
dem der Bürgermeister an einer Stelle ins Gesicht spuckt, er habe keinerlei | |
Rechte und werde auch nie welche haben, ist am Ende ausradiert: Haus weg, | |
Freund weg, Frau weg, Kind weg. Er selbst für zwanzig Jahre im Straflager. | |
„Wird ihn Bescheidenheit lehren“, gibt ihm der Lokal-Zar auf den Weg zur | |
Umerziehung mit. | |
Der Schlag, zu dem der aktuelle Regie-Star Russlands, Andrej Swjaginzew, | |
gemeinsam mit seinem Koautor Oleg Negin und den Produzenten Alexander | |
Rodnjanski und Sergei Melkumow mit „Leviathan“ ausgeholt hat, sitzt tief. | |
Er trifft zudem ein Land, vor dem man Angst haben muss. Nicht nur als | |
ohnehin brüchige Weltgemeinschaft, die sich dabei zerreißt, gegen eine | |
Hydra anzukommen, sondern eben auch und gerade als einfacher Staatsbürger, | |
der dem Leviathan zum Fraß gereicht wird. Politik, Justiz, Kirche und ihre | |
jeweiligen Handlanger und Exekutoren – alle stecken unter einer Decke. | |
Filz und Korruption sind gar keine Ausdrücke dafür, was hier abgeht. Nach | |
[1][Chodorkowski] und [2][Pussy Riot] (die übrigens im Film kurz | |
auftauchen, in einem TV-Bericht in Dmitris Hotelzimmer), Krim und Donbass, | |
Politkowskaja und Nemzow ist es unmöglich geworden, diesen Film – so wie | |
der Regisseur selbst das eine Zeit lang wollte – als von Putins Russland | |
unabhängige universelle Parabel von der Ohnmacht des Menschen zu lesen, | |
deren Buch noch dazu auf die realen Erfahrungen eines US-amerikanischen | |
Farmers mit der Machtvertikale zurückgeht. | |
Dass der russische Staat, dessen Präsident Anfang des Jahres persönlich | |
alle Kulturschaffenden zur Einhaltung einer „ethischen Charta“ gemahnt hat, | |
keine Freude an diesem Film hat, verwundert kaum. Eher noch, dass das | |
Kulturministerium die Parabel über die zynische Moral seiner Machthaber | |
finanziell gefördert hat, was den Minister Wladimir Medinski im Nachhinein | |
unglücklich stimmte. Für zukünftige Projekte werden Rodnjanski und | |
Swjaginzew, so sie das überhaupt noch wollen, wohl eher nicht mehr in diese | |
Gunst kommen – Geld aus der Staatskasse wird zudem gerade für die | |
Renaissance altbekannter Genres wie den „Kriegspatriotischen Film“ | |
benötigt. | |
Keine Frage: „Leviathan“ ist mittlerweile von einem ambitionierten | |
Arthouse-Projekt zu einem Schandfleck im Imaginären des neorussischen | |
Ganzen mutiert, im wiederbelebten biopolitischen Diskurs auch „Volkskörper“ | |
genannt. Weniger Symptom als vielmehr Sollbruchstelle der prekären | |
(Kultur-)Politik und ihrer ideologischen Werteskala, markiert der Umgang | |
mit diesem filmische Wal seit seinem Auftauchen im Wettbewerb von Cannes | |
2014 die tiefe Gespaltenheit einer Gesellschaft, deren eine Hälfte Angst | |
und Paranoia als immer angemessener erscheinende Lebenshaltung wählt, | |
während sich andere arrangieren und für wieder andere endlich die Zeit der | |
siegreichen Niedertracht gekommen scheint. | |
## Kulturminister und religiöse Eiferer attackierten den Film | |
Jenseits russischer Grenzen hat „Leviathan“ reüssiert, vom Preis für das | |
beste Drehbuch in Cannes über den „Golden Globe“ für den besten | |
fremdsprachigen Film bis hin zur „Oscar“-Nominierung. Im russischen Verleih | |
hatte er es schwer; trotz zensierter Fassung – alle unflätigen Ausdrücke | |
wurden herausgeschnitten – wurde er von [3][religiösen Eiferern und dem | |
Kulturminister selbst angegriffen]. | |
Die „Leviathan“-PR schlägt mittlerweile zurück: Wer ein Abo für den | |
unabhängigen TV-Sender „Dozhd“ erwirbt, kriegt den Director’s Cut zu seh… | |
Und Swjaginzews Gattin, die Fotokünstlerin Anna Matwejewa, dokumentiert in | |
der hippen Galerie „Na Solyanke“ das Making-of. | |
Zu Jahresbeginn stellte Seance, die führende Filmzeitschrift Russlands, | |
ihren Autoren die Frage, ob „Leviathan“ ein universelles Gleichnis oder | |
doch plakative Publizistik sei. Konjunkturen bedienende Schwarzmalerei, | |
Strategie-Kunst oder eine Enzyklopädie des russischen Lebens? Die | |
Statements belegen, dass niemand die Fähigkeit verloren hat, ästhetische, | |
technische und filmhistorische Urteile zu fällen. | |
Die Autoren von Seance stufen Swjaginzews schon mit „Die Rückkehr“ (2003) | |
und „The Banishment“ (2007) begonnenen und zuletzt mit „Elena“ (2011) | |
vorangetriebenen Siegeszug im europäischen Autorenkino durchaus kritisch | |
ein. Aber sie zeigen auch, dass ein Film wie „Leviathan“ zurzeit schon | |
allein deshalb unterstützenswert ist, weil er sich (unter dem Strich) gegen | |
den Kompromiss stellt und die Dinge (wenngleich vorsichtig, à la Fabergé) | |
beim Namen nennt. | |
Sicher, auch andere drehen alternativ zum Mainstream. Sicher, dieses Kino | |
mit seiner glänzenden Optik, seinen mythologisch-biblischen Anspielungen | |
und seinen dramatischen Zuspitzungen ist ein wenig prätentiös. Auch im | |
Drehbuch bleiben viele Fragen offen – warum setzt sich ein erfahrener | |
Anwalt ins Auto seines Widersachers, von dem er weiß, dass dieser über | |
Leichen geht? Warum hat er Sex mit der Frau seines ohnehin | |
darniederliegenden Freundes? | |
Dennoch hat „Leviathan“ inszenatorischen Drive und Passagen, die ungemein | |
stark sind. Und andere, die richtig wehtun. Etwa, wenn Kolja und Liljas | |
Freunde sich in ihrer Verunsicherung als Denunzianten erweisen. „Leviathan“ | |
ist dann wie ein Schnitt ins eigene Fleisch. | |
12 Mar 2015 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
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