# taz.de -- Postfossiler Umbau der Gesellschaft: Morsch und hohl ist das System | |
> Eine interdisziplinäre Tagung in der Akademie Tutzing nahm die | |
> „Politische Ökonomik großer Transformationen“ in Augenschein. | |
Bild: Der erste Kipppunkt ist schon erreicht, der arktische Eisschild beginnt z… | |
TUTZING taz | Außen völlig intakt, innen völlig hohl. So starb diese Woche | |
just vor den Augen der Gäste der Evangelischen Akademie Tutzing am | |
Starnberger See ein Baum. Der hatte gewiss nicht auf diesen symbolhaften | |
Auftritt gewartet, doch seine morsche Hohlheit illustrierte den Zustand des | |
fossilen Kapitalismus, der in der Akademie drei Tage lang zur Debatte | |
stand. [1][„Politische Ökonomik Großer Transformationen“] hieß das | |
Kongressthema, das der scheidende Akademieleiter Martin Held organisiert | |
hatte. | |
Etwa hundert Beteiligte verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, darunter | |
eine erkleckliche Riege von Wirtschaftsprofessoren, versuchten zu | |
ergründen, wann und wie eine postfossile Ordnung die jetzige nicht | |
zukunftsfähige ablösen wird. | |
Dass die postfossile Revolution genauso schwergewichtig sein wird wie die | |
neolithische und die industrielle, darüber erzielten sie schnell Einigkeit. | |
Uneinig waren sie sich, wie der Übergang erfolgen wird. Wie stabil oder | |
morsch ist das kapitalistische Wirtschaftswachstum? Findet es überhaupt | |
noch statt? Wachsen nicht längst nur noch seine schlimmsten Auswüchse? | |
Staatsverschuldung, Eurokrise, Armut, Ungleichheit, Klimawandel? Ist der | |
Baum deshalb so morsch? | |
Belesenheitsbesessene Ökonomen zückten Zitate, schossen mit | |
Sekundärquellen. Doch ihre kalten Waffen namens „Grenzkosten“ oder | |
„Effizienz“ sind Teil des Problems und nicht der Lösung – waren es doch | |
genau sie gewesen, die die Natur so ausgehöhlt hatten. Wird „Resilienz“ | |
nicht irgendwann genauso wichtig wie „Effizienz“?, fragte Akademieleiter | |
Held am Ende. | |
Wolfgang Lucht, im UN-Klimarat IPCC engagierter Physiker vom Potsdam | |
Institut für Klimafolgenforschung, präsentierte ein äußerst komplexes | |
Modell der Interaktion von Geosphäre, Biosphäre und Anthroposphäre. „Wir | |
sind am Scheideweg“, befand er, denn wegen der Unumkehrbarkeit von | |
„Klima-Kipppunkten“ wird das heutige Verhalten der Menschheit auch die | |
nächsten Jahrtausende bestimmen. Der erste Kipppunkt ist schon erreicht, | |
der arktische Eisschild beginnt zu schmelzen. | |
Luchts noch größere Sorge war die Unberechenbarkeit komplexer Ökosysteme | |
und Nahrungsketten. Etwa Extremperioden von Kälte oder Hitze, die sich in | |
Wellenmustern ausbreiten: „Früher zerfielen diese Extreme schnell, heute | |
stabilisieren sie sich wochenlang und treten miteinander in Resonanz.“ | |
## Global vernetzte Wissenschaft | |
Der beeindruckend interdisziplinär denkende Physiker begoss – wenn auch | |
sehr vorsichtig und gewissermaßen mit kleiner Gießkanne – einen kleinen | |
grünen Sprössling namens „geosapientische Transition“: die Möglichkeit, | |
dass die global vernetzte Wissenschaft von heute fundamental anders als | |
noch im 19. oder 20. Jahrhundert agieren und zusammen mit vielen weiteren | |
Akteuren eine zukunftsfähige Ordnung vorbereiten kann. | |
Sein Computermodell mit dem bürokratischen Titel „LPJmL“ wird im laufenden | |
EU-Projekt „PolFree“ mit Unmengen geisteswissenschaftlich gewonnener Daten | |
kombiniert. „PolFree“ kann für die verschiedenen „Klimapfade“ des IPCC… | |
Verfügbarkeit von Wasser oder Grundnahrungsmitteln in 38 Ländern | |
simulieren. Die Ergebnisse der Szenarien, die mit sagenhaften 1,7 Millionen | |
Variablen und Gleichungen arbeiten, werden zwar erst in einigen Monaten | |
vorliegen. Doch einiges lässt sich laut dem Umweltökonomen Bernd Meyer | |
schon jetzt absehen. Etwa, dass der CO2-Handel nicht viel erreichen könne: | |
„Man bräuchte dermaßen hohe Preise, das wird nicht durchsetzbar sein.“ | |
Von großer Bedeutung werde deshalb die „Dematerialisierung der Produktion“ | |
sein, etwa durch Kaskadennutzung von Rohstoffen. Wird das morsche Holz dann | |
neue Blüten treiben? | |
## Wachstumszwang bekämpfen | |
Und wie kann man naturfressendes Wirtschaftswachstum beenden? Irmi Seidl | |
von der Universität Zürich zeigte sich überzeugt, dass die Große | |
Transformation erst dann gelingt, wenn der „Wachstumszwang“ in Banken und | |
Unternehmen, in der Alters- und Gesundheitsversorgung sowie weiteren | |
Sektoren gestoppt wird. Diese „Subsysteme“ agierten nämlich ihrerseits | |
durch Zinsen, Renditen und andere Faktoren als „Wachstumstreiber“. | |
Für jedes Subsystem nannte sie eine Fülle wachstumsbremsender Maßnahmen, | |
etwa Regulierung von Finanzmärkten, Energie- statt Arbeitsbesteuerung oder | |
Reduktion von Erwerbszeit. | |
Überhaupt: Zeitwohlstand, da waren sich viele einig, wird die neue wichtige | |
Form von Wohlstand – und gleichzeitig Voraussetzung für die | |
„geosapientische Transition“ Richtung Biosphärenbewusstsein. Der morsche | |
Baum am sonnenüberglänzten Starnberger See – vielleicht wird er zur | |
Sitzbank, einladend zum Nachdenken. | |
12 Mar 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://transformateure.wordpress.com/2014/11/30/politische-okonomik-groser-… | |
## AUTOREN | |
Ute Scheub | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Nachhaltigkeit | |
Wachstumszwang | |
Transformation | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Transformation | |
Wissenschaftsrat | |
Anthropozän | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommentar Zyklon verwüstet Vanuatu: ...aber am Klimawandel lag es nicht! | |
Kohle sei „gut für die Menschheit“, sagt Australiens Premier Abbott. Dass | |
der Klimawandel für die Zerstörung von Vanuatu verantwortlich ist, glaubt | |
er nicht. | |
Kommentar Europäische Energie-Union: Kein Mut für die Zukunft | |
Eine einheitliche Energiepolitik in Europa wäre gut. Aber sobald es ans | |
Eingemachte geht, ziehen Berlin, Warschau oder Paris die Notbremse. | |
Gesellschaft spaltet Wissenschaft: Abstimmung vertagt | |
Eigentlich wollte der Wissenschaftsrat sein Positionspapier über die | |
„großen gesellschaftliche Herausforderungen“ schon längst verabschiedet | |
haben. | |
Töpfers IASS-Institut auf dem Prüfstand: „Erst dreieinhalb Jahre am Netz“ | |
Der Wissenschaftsrat hat das von Klaus Töpfer aufgebaute Potsdamer | |
Forschungsinstitut IASS evaluiert: Er möchte Kurskorrekturen. | |
„Anthropozän-Projekt“ in Berlin: Der Umbau der Erde | |
Eine Wissenschaftstagung im Rahmen des Berliner „Anthropozän-Projekts“ geht | |
der Frage nach, wann das Menschenzeitalter begonnen hat. |