# taz.de -- Syrien-Tagebuch Folge 10: Lass uns über Angst reden | |
> Zwei Freundinnen entzweien sich über die Revolution und den Bürgerkrieg | |
> in ihrer Heimat. Gibt es eine Chance auf Versöhnung? | |
Bild: Ob Verschwörung oder Revolution: Am Ende bleibt in Homs die Zerstörung. | |
Die syrische Bloggerin Sherien Alhayek, 26, wuchs in Homs auf. Sie hat dort | |
Architektur und Kommunikationswissenschaften studiert. Seit einem Jahr lebt | |
sie im türkischen Exil und studiert Video-Journalismus. | |
Wir reden nicht mehr, überhaupt nicht mehr, so, als ob wir uns nie gekannt | |
hätten. Ich habe gehört, dass sie jetzt in Kanada ist. Sie wollte immer | |
dorthin und nun hat sie es offenbar geschafft. | |
Wir waren einmal sehr eng miteinander verbunden, sie war meine Inspiration. | |
Sie war es, die mich aus meiner Komfortzone schubste, denn nur so, fand | |
sie, würde man wachsen und lernen. | |
Neben vielem anderen drehte sich unsere Freundschaft immer wieder um die | |
Palästinafrage. Wir konnten stundenlang darüber reden, wir besuchten | |
Flüchtlingsviertel und schrieben darüber. 2004 ging sie nach Frankreich, um | |
ihren Master zu machen, ich zog in die USA und beendete dort mein Studium. | |
Aber unsere Freundschaft ging weiter und sie blieb einzigartig. | |
Als in Tunesien die Revolution begann, besuchte ich sie gerade in | |
Frankreich. Sie war so aufgeregt, genau wie ich. Wir feierten die kommenden | |
Veränderungen in der Region und stießen darauf an. Wir sprachen darüber, | |
wie die tunesische Regierung die Medien benutzte und Informationen | |
zurückhielt. | |
## Von Tunesien nach Syrien | |
Dann, im März 2011, als die Revolution in Syrien ausbrach, schickte sie mir | |
einen wütenden Kommentar zu einem Post von mir auf Facebook, in dem ich den | |
politischen Wechsel unterstützt hatte. Ich antwortete mit einer privaten | |
Nachricht, und wir redeten. Sie hatte Angst, sie war wütend und sagte, dass | |
ich es nicht begriffe, Syrien sei nicht Tunesien und die Situation eine | |
ganz andere. Sie sprach von Israel und einer internationalen Verschwörung | |
gegen Syrien. | |
Sie überzeugte mich nicht. Ich verstand nicht, warum wir exakt die gleiche | |
Situation in Tunesien als „Wechsel“ bezeichneten, in Syrien aber | |
„Verschwörung“ nennen sollten. Ich verstand nicht, dass Gewalt gegen die | |
Bevölkerung in Tunesien für uns eine unerträgliche Aggression bedeutete und | |
in Syrien Selbstverteidigung! Wie können wir Israel kritisieren, weil es | |
unschuldige Palästinenser töten lässt, und schweigen, wenn das syrische | |
Regime Syrer umbringt? | |
Wir waren wütend aufeinander, so wütend wie noch nie zuvor. Wir verwendeten | |
verletzende Wörter in einem verletzenden Ton. Dann versuchten wir eine | |
Weile, über nichts zu reden, was mit der Revolution zu tun hatte, nur um | |
unsere Freundschaft am Laufen zu halten. | |
## Das Bedürftnis nach Gerechtigkeit | |
Doch dann, Mitte 2012, gab es nichts mehr, was nichts mit Syrien zu tun | |
hatte, selbst Brot war mit dem Krieg verbunden. | |
Ob wir unsere Freundschaft irgendwann wieder aufnehmen können? Wenn Syrien | |
wieder zur Ruhe gekommen ist, können wir dann wieder zusammenwachsen? | |
Ich glaube nicht. | |
Es kommt mir vor, als ob sie unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit aufgegeben | |
hat. Ich verstehe, dass ein Wechsel in Syrien ihr Angst machte, weil ein | |
solcher bedeutet, dass sie Dinge aufgeben müsste, die sie nicht aufgeben | |
will. Ihre Familie hat nicht viel Geld, aber ihr Vater und ihr Bruder | |
arbeiten für die Regierung und die übernimmt sämtliche Dienstleistungen für | |
die Familie. Dieses Privileg zu verlieren, konnte sie sich nicht leisten. | |
PS: Wo immer du bist, ich verstehe, dass du Angst vor dem Regime hast, denn | |
wir alle wissen, wie brutal und aggressiv es ist, das werfe ich dir nicht | |
vor. Ich hätte mir nur gewünscht, dass du mir das gesagt hättest und mich | |
nicht stattdessen davon überzeugen wolltest, dass es in Ordnung sei, | |
Menschen aus Gründen der Selbsterhaltung zu töten. | |
Übersetzung aus dem Englischen: Ines Kappert | |
15 Apr 2015 | |
## TAGS | |
Arabische Revolution | |
Tunesien 2011 | |
Syrien | |
Schwerpunkt Syrienkrieg | |
Syrien | |
Israel | |
UN-Sicherheitsrat | |
Damaskus | |
PLO | |
Damaskus | |
Syrische Armee | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Syrien-Tagebuch Folge 15: „Niemand wird mir helfen“ | |
Syrische Flüchtlinge haben schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht. | |
Mit der Folge, dass niemand eingreift, wenn eine Frau verprügelt wird. | |
Konflikt zwischen Israel und Syrien: Luftangriff auf Golanhöhen | |
Israel hat einen mutmaßlichen Terrorangriff an der syrischen Grenze | |
abgewehrt. Ministerpräsident Netanjahu lobte den Einsatz. Es ist von vier | |
Toten die Rede. | |
Verdacht auf Chlorgas im Syrienkrieg: „Bleichhaltige Gerüche“ in Sarmin | |
Dem UN-Sicherheitsrat liegt ein Video vor, das einen Chlorgas-Angriff in | |
Syrien zeigen soll. Unter den Opfern sind vor allem Frauen und Kinder. | |
Opferzahlen zum Syrien-Konflikt: 220.000 Tote | |
Über 220.000 Menschenleben hat der Krieg in Syrien bisher gefordert. Laut | |
der Beobachtungsstelle für Menschenrechte sind 80.000 Zivilisten und Kinder | |
darunter. | |
Reaktionen auf IS-Einmarsch in Jarmuk: Der Aufschrei bleibt aus | |
Unter Palästinensern und den Regierungen der Region ist die Haltung zu | |
Syrien gespalten. Für einige sind zudem Konflikte wie der im Jemen | |
relevanter. | |
Kommentar Syrien-Krieg: Die Hölle ist nicht nur in Jarmuk | |
Die IS-Präsenz lenkt den Blick auf Jarmuk. Dabei terrorisiert das | |
Assad-Regime den Stadtteil schon seit vielen Jahren. | |
Syrien-Tagebuch Folge 9: „Alawiten verteidigen das Regime“ | |
Das Regime von Präsident Baschar al-Assad schürt gezielt konfessionelle | |
Spannungen. Das hat auch auch Auswirkungen auf die Armee. |