# taz.de -- Syrien-Tagebuch Folge 15: „Niemand wird mir helfen“ | |
> Syrische Flüchtlinge haben schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht. | |
> Mit der Folge, dass niemand eingreift, wenn eine Frau verprügelt wird. | |
Bild: Auch in der Türkei blicken Syrerinnen einer unsicheren Zukunft entgegen | |
Die syrische Bloggerin Sherien Alhayek, 26, wuchs in Homs auf. Sie hat dort | |
Architektur und Kommunikationswissenschaften studiert. Seit einem Jahr lebt | |
sie im türkischen Exil und studiert Video-Journalismus. | |
Kein Mann weiß, wie es sich anfühlt, von einem anderen Mann auf der Straße | |
belästigt zu werden. Weil der denkt, er habe ein Recht dazu, wegen deiner | |
Kleidung, deiner Erscheinung, deiner Art oder was auch immer. Diese | |
Mischung aus Schuld, viel Wut und Ohnmacht, ist toxisch. | |
Heute begleitete ich eine Freundin beim Einkaufen, als ein türkischer Mann | |
mich anmachte. Ich trage Jeans, ein ärmelloses T-Shirt und habe eine | |
Wasserflasche in der Hand. Als er hört, dass ich mit meiner Freundin | |
Arabisch spreche, kommt er dicht an mich heran und fragt mich auf Türkisch, | |
ob ich Türke sei. Ich habe kein Interesse an einem Gespräch mit ihm, also | |
antworte ich auf Englisch: „I don’t want to talk to you!“ Er sagt, auch a… | |
Englisch: „I don’t understand.“ Ich wiederhole mich zweimal und setze dann | |
hinzu: „Shut up! Maybe this you will understand!“ | |
Ob ich Syrer sei, will er wissen, und ich schweige. Er schiebt einen | |
Einkaufswagen voller Kleidungsstücke vor sich her und stößt mich damit | |
leicht am Arm an. Ich ziehe meinen Arm weg, doch er greift nach ihm und | |
redet auf Türkisch auf mich ein. Ich beginne mich zu ekeln. Seine Finger | |
fühlen sich schmutzig an, schlammig, obszön. Seine Finger um meinen Arm | |
verletzen meine Seele. | |
## Jetzt will er mich schlagen | |
Nachdem ich ihn geohrfeigt habe, verwandelt er sich in ein Tier. Seine | |
Finger quetschen mir die Lippen zusammen, und er zieht mich zu sich heran, | |
dann legt er mir seine Hand auf die Schulter und rammt mir seine Nägel in | |
die Haut. Ich bin total überrascht. Jetzt will er mich schlagen. Die Leute | |
in dem syrischen Restaurant neben uns sehen zu. Niemand unternimmt etwas. | |
Wahrscheinlich sind es alle Syrer, und die haben Angst, in einen Kampf mit | |
einem Türken verwickelt zu werden. Als Flüchtlinge fühlen sie sich schwach. | |
Ich trete ihm in den Magen. Er weicht ein wenig zurück und zieht meinen | |
Kopf dann an meinen langen Haaren herunter und beginnt ihn gegen das | |
Fenster eines geparkten Autos zu schlagen. Ich fühle mich wie vergewaltigt. | |
Denn nur jemand, dem ich in Liebe verbunden bin, darf seine Finger in meine | |
Haare graben. Deshalb verletzt mich seine Hand in meinen Haaren mehr als | |
seine Schläge auf meinen Kopf. Wie er nach meinen Lippen, Haaren oder | |
meiner Jacke greift – alles ist obszön. | |
Es gelingt mir, mich mithilfe ein paar vor langer Zeit gelernter | |
Judo-Griffe zu befreien. Doch wieder reißt er mich an den Haaren und | |
schlägt meinen Kopf auf einen kleinen Tisch, der zum Restaurant gehört. Ich | |
schütte ihm mein Wasser ins Gesicht und schlage zurück. | |
## Niemand rührt sich | |
Mittlerweile sind Freunde von ihm da und wollen ihn wegziehen. Doch ich | |
halte seine Hand fest. Ich verlange, dass jemand die Polizei holt. Niemand | |
rührt sich. Syrer haben in Syrien schlechte Erfahrungen mit der Polizei | |
gemacht, und in einem fremden Land wollen sie nicht in die Nähe eines | |
Polizisten kommen. Sie haben schon genug Probleme hier. | |
Irgendwie habe ich es trotzdem geschafft, dass er für eine halbe Stunde | |
verhaftet wird. Er hat jetzt große Angst und weint vor den Polizisten. Er | |
entschuldigte sich bei mir. Die beiden Polizisten weisen mich an, diese | |
Entschuldigung zu akzeptieren, immerhin hätte ich weder einen Übersetzer, | |
ein ärztliches Attest noch einen Zeugen bei der Hand. Und ich weiß, dass | |
niemand aus dem Restaurant mir helfen wird. Also akzeptiere ich, und er | |
darf gehen. | |
Zu Hause gehe ich duschen. Ich will seine Fingerabdrücke abwaschen. Im | |
Spiegel sehe ich die Kratzer auf meiner Schulter, und zum ersten Mal könnte | |
ich weinen. Sie sehen aus, als kämen sie von einem wilden Tier und nicht | |
von einem bösartigen Menschen, der denkt, er kann Frauen auf der Straße | |
belästigen, weil er Türke ist und ich Syrerin bin, weil er stark ist und | |
ich schwach bin, oder einfach nur, weil er ein Mann ist und ich eine Frau | |
bin. | |
Aus dem Englischen von Ines Kappert | |
1 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Sherien Alhayek | |
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